Southpark: Depression als zynisches A****loch

Die Depression ist nicht nur eine der häufigsten, sondern wahrscheinlich auch die bekannteste psychische Erkrankung. Im Gegensatz zu den ebenfalls sehr häufigen Angststörungen, welche in viele verschiedene Unterformen differenziert werden, wird bei Depressionen nach der aktuell gebräuchlichen diagnostischen Klassifikation lediglich nach Schweregrad unterschieden, was dazu führt, das sich ein und dieselbe Diagnose – ICD-10 F32: Depressive Episode (bei erstmaliger Erkrankung) oder F33: Rezidivierende depressive Störung (bei wiederholtem Auftreten) – zum Teil sehr unterschiedlich darstellt. Während die drei Hauptsymptome
  • Niedergeschlagenheit
  • Antriebslosigkeit
  • Freud- und Interessensverlust
fast immer vorliegen, variiert die Begleitsymptomatik individuell erheblich. Gereiztheit und Aggressivität können ebenso auftreten, wie Selbsthass und Suizidalität. Extreme Müdigkeit und exzessives Schlafen, ebenso wie Schlaflosigkeit und Unruhe. Grübeln sowie Vergesslichkeit und Konzentrationsstörungen. Sozialer Rückzug und Scham ebenso wie übersteigerte Kompensation durch Feiern, Sex, Alkohol und Drogen.
Da wundert es nicht, dass ebenso bunt und vielseitig wie die realen Erscheinungsformen der Depression auch deren Darstellungen in der Popkultur sind.
Da gibt es ziemlich realitätsnahe Darstellungen von Depressionen, wie z.B. in Bojack Horseman, Fleabag oder auch dem immer wieder sehenswerten Film Little Miss Sunshine. Es gibt Depressionen in Welten, in denen es eigentlich gar keine Depressionen gibt, wie z.B. die von König Theoden in Herr der Ringe. Und es gibt jede Menge originelle Metaphern, wie den berühmten schwarzen Hund schwarzen Hund (WHO) oder die  Dementoren aus Harry Potter (themighty.com).
 
Auf eine weitere, ziemlich spezielle Sichtweise von Depressionen wurde ich neulich aufmerksam gemacht: In einer Doppelfolge von Southpark (S15E7+8) leidet Stan nach der Trennung seiner Eltern, welche das Ende seiner unbeschwerten Kindheit markiert unter dem Cynical Asshole Syndrome.
Er ist permanent niedergeschlagen (Kernsymptom 1 der Depression), findet keinen Antrieb mehr, um z.B. etwas mit seinen Freunden zu unternehmen (2) und – ganz Southpark – sein Lieblingsessen schmeckt auf einmal wie Scheiße, seine Lieblingsmusik klingt wie Scheiße, Kinofilme sind scheiße (Kernsymptom 3: Freud-/Interessensverlust). Er wird zynisch, gereizt, in sich gekehrt, fühlt sich unverstanden und entfremdet, zieht sich sozial zurück: Häufige Begleitsymptome depressiver Störungen. Stan hat eine handfeste Depression – und nicht etwa das ihm in der Serie fehldiagnostizierte Asperger- („Ass-Burger-„) Syndrom.
Wer nun auf ein Happy End, oder such nur die Erwähnung konstruktiver Behandlungs- oder Bewältigungsansätze hofft, ist in der falschen Serie gelandet. An Stans Gefühl, dass alles scheiße ist und ihn niemand versteht, ändert sich nichts mehr. Wie nicht wenige Menschen mit unbehandelten und unverstanden Depressionen legt er sich eine fröhliche Fassade zu und betäubt seine echten Gefühle mit Alkohol. Cheers, Stan!

Angebote zur Soforthilfe bei Depressionen und Suizidalität gibt es hier: https://www.deutsche-depressionshilfe.de/depression-infos-und-hilfe/wo-finde-ich-hilfe/krisendienste-und-beratungsstellen 
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Momo: Depression und Achtsamkeit

„Sparen Sie Zeit“ – wie zeitlos aktuell klingt dieser Imperativ der grauen Herren aus Michael Endes bereits 1973 erschienenen Roman Momo. Von Beschleunigung, Effizienzsteigerung, Prozess- und Selbstoptimierung können wie ein Lied singen. Die allgegenwärtige Begleitmusik spielen Consultants, Coaches und Influencende. Wie auch bei den Bewohnern von Momos Heimatstadt bleibt zu unserer beständigen Überraschung von der so effizient eingesparten Zeit überhaupt nichts übrig. Vielmehr haben wir doch nie genug (Zeit).
Dass ein Leben unter chronischem Zeitstress krank macht, wusste Michael Ende und weiß die psychologisch Forschung seit langem (nachzulesen u.a. in dem Ergebnisbericht des Forschungsprojektes zur Untersuchung arbeitsbedingter Ursachen von Depressionen, in dem ich seinerzeit promoviert habe).
In Momo beschreibt Meister Hora es so: 
 
Man hat eines Tages keine Lust mehr, irgendetwas zu tun. Nichts interessiert einen. Man ödet sich. Aber diese Unlust verschwindet nicht wieder, sondern sie bleibt und nimmt langsam immer mehr zu. Sie wird schlimmer von Tag zu Tag, von Woche zu Woche. Man fühlt sich immer missmutiger, immer leerer im Inneren, immer unzufriedener mit sich und der Welt. Dann hört nach und nach sogar dieses Gefühl auf und man fühlt gar nichts mehr. Man wird ganz gleichgültig und grau. Die ganze Welt kommt einem fremd vor und geht einen nichts mehr an. Es gibt keinen Zorn mehr und keine Begeisterung. Man kann sich nicht mehr freuen und nicht mehr trauern. Man verlernt das Lachen und das Weinen. Dann ist es kalt geworden in einem und man kann nichts und niemanden mehr liebhaben.

Die Kernsymptome einer depressiven Störung nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F32):  

  • Negative Gestimmtheit
  • Freud-/ und Interessensverlust
  • verringerter Antrieb 
werden hier klar benannt. 
Außerdem häufige Begleitsymptome wie innere Leere, das Gefühl von Gefühllosigkeit oder emotionaler Taubheit, Entfremdung, sozialer Rückzug und Selbstwertverlust.
 
Anders als Meister Hora es Momo sagt, ist die „tödliche Langeweile“ jedoch nicht unheilbar. Depressionen sind behandelbar! Psychotherapie wirkt. Auch Sport und Meditation können positive Effekte haben. Bei schweren Verläufen können Medikamente ergänzend zur Psychotherapie hilfreich sein. 
 
Momo selbst ist eine gute Zuhörerin und ist, wie wir im Roman erfahren eine ziemlich gute Psychotherapeutin, wenngleich sie sich so selbst nicht nennen würde:  
 
Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: Zuhören. Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören!
 
 
Auch die Kunst des Innehaltens und der Achtsamkeit, die Basis der meisten wirksamen Meditations- und Entspannungstechniken, und quasi das Gegenmittel gegen Zeitsparen und Entfernung (sofern wir von einer fundierten und ernsthaft verinnerlichten Haltung und Praxisund nicht von Selbstoptimierungsposen reden) finden wir im Roman veranschaulicht, wenn Beppo Straßenkehrer seiner täglichen Arbeit nachgeht:
Beppo liebte diese Stunden vor Tagesanbruch, wenn die Stadt noch schlief. Und er tat seine Arbeit gern und gründlich. Wenn er so die Straßen kehrte, tat er es langsam, aber stetig, Bei jedem Schritt einen Atemzug und bei jedem Atemzug einen Besenstrich. Schritt, Atemzug, Besenstrich. Dazwischen blieb er manchmal ein Weilchen stehen und blickte nachdenklich vor sich hin.
Momo ist ein zeitloses und hervorragendes Buch über das moderne Leben. Über Freundschaft, Gesellschaft, Arbeit, Zeit und Gesundheit. 
Ein besseres Lehrbuch für Psychotherapeut*innen, als so manche Fachpublikation. 
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Der Zauberer von Oz: Angst und Mut

Als der Löwe, der sich selbst für einen Feigling hält, weil er das Gefühl der Angst kennt, Oz, der vorgibt ein Zauberer zu sein, obwohl er nicht zaubern kann, darum bittet ihm Mut zu verleihen und sich diesen so vorstellt, dass man grundsätzlich keine Angst mehr fühlt, antwortet der kluge Oz:

 
„Ich bin sicher, dass du mutig bist. Alles was dir fehlt, ist Selbstvertrauen. Es gibt kein Lebewesen, das sich angesichts einer Gefahr nicht ängstigen würde. Wahrer Mut zeigt sich ja gerade darin, dass man dennoch der Gefahr ins Auge blickt. Und über diese Art von Mut verfügst du reichlich.“
 
 

 

Sehr ähnlich fast es der Psychoanalytiker und weltberühmte Angstforscher Fritz Riemann in seinem für die Praxis der Persönlichkeitspsychologie und Psychotherapie unverändert relevanten Standardwerk Grundformen der Angst von 1961 zusammen: 
 
„Angst gehört unvermeidlich zu unserem Leben. In immer neuen Abwandlungen begleitet sie uns von der Geburt bis zum Tode. Die Geschichte der Menschheit lässt immer neue Versuche erkennen, Angst zu bewältigen, zu vermindern, zu überwinden oder zu binden. […] Es bleibt wohl eine unserer Illusionen, zu glauben, ein Leben ohne Angst leben zu können; sie gehört zu unserer Existenz und ist eine Spiegelung unserer Abhängigkeiten und des Wissens um unsere Sterblichkeit. Wir können nur versuchen, Gegenkräfte gegen sie zu entwickeln: Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Macht, Hoffnung, Demut, Glaube und Liebe. Diese können uns helfen, Angst anzunehmen, uns mit ihr auseinanderzusetzen, sie immer wieder neu zu besiegen“.
 
Tatsächlich hat der Löwe im Zauberer von Oz seinen Mut, den wahren Mut, der sich nicht ohne, sondern trotz und gerade wegen des Vorhandenseins von Angst zeigt, schon mehrfach unter Beweis gestellt, bevor er überhaupt Gelegenheit bekommt, dem Zauberer seinen Wunsch vorzutragen. Dieser Mut zeigt sich vor allem dann, wenn es um das geht, was dem Löwen am wichtigsten ist: seine Freunde. 
 
Hier können wir eine von erfreulich zahlreichen psychologischen Weisheiten erkennen, die in dem Kinderbuchklassiker Der Zauberer von Oz thematisiert werden: Ein Leben ohne Angst ist nicht möglich. Ebensowenig wie ein Leben ohne Traurigkeit, Scham, Ekel, Ärger, Neugier, Freude, Zuneigung oder irgendein anderes Gefühl. 
Das wäre auch gar nicht wünschenswert. Unser heutiges Gefühlssortiment ist immerhin das Produkt eine langen evolutionären Entwicklungsprozesses und die Evolution weiß bekanntlich, was sie tut. Jedes Gefühl hat seine Funktion und damit seine grundsätzliche Daseinsberechtigung. Angst zum Beispiel weist uns auf mögliche Gefahren hin und versetzt uns in einen Zustand der Reaktionsbereitschaft (ja, genau, das fight-or-flight-syndrome aus dem Biounterricht). 
Wenn die Winkies angreifen, um den Löwen und seine Freunde zu töten, bekommt er Angst: Atmung und Herzschlag beschleunigen sich, der Blutdruck steigt. Die Durchblutung der Extremitäten wird verstärkt, die Muskeln in den Beinen spannen sich an, bereit zum Sprung, bereit zuzuschlagen. Jetzt ist nicht die Zeit, entspannt auf dem Bauch zu liegen und den Blick seelenruhig über die weite Steppe schweifen zu lassen. Jetzt sind Fokus und Reaktionsgeschwindigkeit gefragt. Essen, Schlafen, Sex – dafür wird später noch Zeit sein. Sofern jetzt überlebt wird. Wie gut also, dass der Löwe Angst hat. 
 
Und doch ist uns der Wunsch des Löwen so vertraut. Oft wünschen wir uns, bestimmte Gefühle einfach abstellen zu können. Wenn nur Angst, Unsicherheit, Scham, Erschöpfung, Neid, Hunger oder Wut nicht wären, könnten wir endlich unser wahres mutiges, selbstbewusstes, aktives, erfolgreiches, großzügiges, liebevolles – kurzum: perfektes – Ich entfalten. Aber da sind halt diese blöden Gefühle, schade! 
 
In der Psychotherapie, ebenso wie im Leben im Allgemeinen, besteht eine wichtige Einsicht darin, dass wir unser Leben aktiv nach unseren persönlichen Bedürfnissen und Werten ausrichten können, obwohl Gefühle wie Angst, Scham, Reue oder Kränkung gerade das oft erschweren. 
In der Therapieschule, die diese Erkenntnis zu ihrem Grundprinzip erhoben hat, der Akzeptanz- und Commitmenttherapie, heißt es: „we hurt, where we care“ oder auch „where there’s pain, there’s values“. 
Gerade da, wo die Gefühle intensiv, der Schmerz spürbar wird, gibt es wichtiges zu verstehen und zu erreichen. 
 
Der Löwe hält die Angst für sein Problem, doch sie ist Teil der Lösung. Wie der große Stoiker Captain Jack Sparrow (Fluch der Karibik) sagt: 
 
„The problem is not the problem. The problem is your attitude about the problem.“ 
 
 
Wer unangenehme Gefühle nicht als vermeidbares Übel, sondern als unverzichtbare Signale betrachtet, kann damit aufhören, Energie an Ärger, Hader und Selbstanklage zu verschwenden und anfangen, eine Lösung im Sinne der eigenen Bedürfnisse und Werte zu finden. 
„Leiden = Schmerz x Widerstand“ ist die berühmte Formel buddhistischer Lebensweisheit. 
 
Der Löwe hat etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Und es ist gerade seine Angst, die ihn das spüren lässt und ihm Kraft verleiht. 

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Vikings: Ivar & Floki

Ivar der Knochenlose – was für ein schrecklicher Name! Nicht nur weil der arme Junge wie ein Ikea-Regal heißt, nein, viel schlimmer ist sein Beiname der auf die ständige gnadenlose Diskriminierung verweist, die ihm wegen seiner körperlichen Behinderung im Kreise der auf Stärke und Nahkampffähigkeiten basierenden Wikingergesellschaft zuteil wird. 
 

 
Dass diese, seit frühester Kindheit ständig erlebte Entwertung und Kränkung im Selbstwertgefühl eines Menschen tiefste Schäden anrichten kann, ist keine Überraschung.  Selbst sein eigener Vater Ragnar, enttäuscht davon, dass der Sohn nicht dem erwünschten Kriegerideal entspricht, möchte ihn zunächst zum Sterben im Wald aussetzen und straft ihn später, die gesamte Kindheit über, mit Ignoranz und Verachtung. Diese sind mittelbar über Ivar auch an dessen Mutter, Ragnars Frau Aslaug, gerichtet. Oberflächlich betrachtet, weil sie ihm nicht den erwünschten Stammhalter „geschenkt“ hat. Eigentlich geht es jedoch um wesentlich tiefer liegende Eheprobleme, welche die beiden, die sich längst in gekränkter Sprachlosigkeit voneinander zurückgezogen haben, jedoch nie bearbeiten werden. Da ist es zunächst einmal nicht verwunderlich, dass Aslaug, als liebende Mutter, ihrem gefährdeten und benachteiligten Sohn besonders viel Liebe, Fürsorge und Schutz zuteil werden lassen will. 
Was die ohnehin schon sehr schwierige und eine gesunde Selbstwertentwicklung erschwerende Situation jedoch noch zusätzlich verkompliziert, ist, dass sie dabei über ihr eigentliches Ziel völlig hinausschießt. Statt liebevolle Unterstützung, die Ivar einerseits ein Gefühl von Sicherheit Geborgenheit und Wertigkeit vermittelt, andererseits aber auch seine persönlichen Ressourcen, Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten ernstnimmt und fördernd zur Entfaltung bringt, behandelt Arslaug ihn bis in die Jugend wie das zerbrechliche, völlig schutzlose und abhängige Baby, als welches sie ihn am schwierigen Anfang seines Lebens wahrgenommen hat. Auch von ihr erhält Ivar somit kein realistisches Feedback über seine persönlichen Eigenschaften, Fähigkeiten, Fertigkeiten, aber auch Fehler oder Schwächen, welche als Ausgangspunkt für eine psychische und emotionale Weiterentwicklung dienen könnten. Aslaugs Infantilisierung und Idealisierung Ivars, zeigt sich unter anderen daran, dass sie ihn übermäßig lange stillt und erreicht ihren tragischen Höhepunkt, als sie ihn selbst dann noch völlig unkritisch in Schutz nimmt, als er einem anderen Kind mit der Streitaxt den Schädel spaltet („es ist nicht deine Schuld, es ist nicht deine Schuld!“).
Natürlich sollten Eltern ihre Kinder immer lieben, selbst dann wenn diese schreckliche Fehler machen, aber eine adäquate Rückmeldung über das Verhalten (z. B.: „Ivar, mein Sohn, du weißt ich liebe dich und werde immer hinter dir stehen, aber anderen Kindern den Schädel zu spalten ist wirklich überhaupt nicht in Ordnung und ich möchte, dass du das zukünftig unterlässt“), ist wichtig um sich persönlich und sozial gesund weiterentwickeln zu können.
Ivar jedoch lebt in einer überaus verwirrenden Diskrepanz zwischen einerseits totaler Entwertung durch die Gemeinschaft und andererseits völlig überzogener Idealisierung durch seine Mutter. Für seine innere Welt bedeutet dies, dass es nur die absolut überlegenen und die absolut wertlosen Menschen gibt und er als körperlich Benachteiligter ganz besonders davon bedroht ist, in die zweite Kategorie gesteckt zu werden. Somit ist Ivars Selbstwertgefühl ständig von absoluter Zerstörung bedroht und die einzige Rettung davor scheint absolute Überlegenheit zu sein. Eine gesunde Selbstwertregulation (z.B.: „Ich bin im großen und ganzen ganz okay, habe einige besondere Talente, andere Dinge gelingen mir dagegen häufig nicht so gut wie anderen, bisweilen passieren mir schreckliche Fehler, doch ich besitze auch ausreichend positive Charaktereigenschaften und Fähigkeiten um mein Bestes zu geben um daraus zu lernen…“) ist dadurch kaum möglich. 

Psychopathologisch können sich schwere Selbstwertstörungen symptomatisch auf verschiedene Weise manifestieren, z.B. als stark von Selbsthass und Minderwertigkeitsgefühlen geprägte Depressionen. Eine weitere Form von Selbstwertstörung ist die heutzutage berühmt-berüchtigte narzisstische Persönlichkeitsstörung
Ein weit verbreitetes Missverständnis besteht darin, dass sogenannte Narzissten sich mit ihrer Störungen wohlfühlen und es nur die anderen seien die darunter leiden würden. Das ist jedoch eine viel zu oberflächliche Sichtweise. Vielmehr ist es so, dass Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung unter einer ständigen latenten aber totalen Bedrohung ihres Selbstwertgefühls leiden. Wie bei Ivar gibt es nur großartig oder absolut wertlos. Daher sind sie sozusagen darauf angewiesen sich selbst stets der eigenen Grandiosität und Größe zu versichern um sich vor der absoluten Selbstwertzerstörung zu schützen. Das resultiert dann in der Überhöhung der eigenen Eigenschaften und Leistungen und häufig auch in der Entwertung anderer. Beziehungen können dann rein instrumentell sein, d.h. andere dienen dazu erniedrigt zu werden (z.B. Ivars Bruder Hvitserk) oder werden nur solange als Gegenüber akzeptiert, wie sie dem eigenen Selvsteert durch Idealisierung dienlich sind (z.B. Ivars Frau Freydis).
 
Nach der internationalen Klassifikation psychischer Krankheiten (ICD-10: F60.80) kann eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostiziert werden, wenn mindestens fünf der folgenden Kriterien vorliegen: 
  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit 
  • Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe
  • Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen
  • Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten 
 
Bei Ivar können wir alle genannten Kriterien erkennen und ihm somit eine schwere narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostizieren. Ob seine Störung so weit geht, dass er sich tatsächlich selbst für einen Gott hält, oder es lediglich genießt, wenn andere dies tun, bleibt offen. 
 
Apropos Götter: Floki, der Vikings-Charakter, nach dem ich am häufigsten gefragt werde, ist bis Staffel 5 gar nicht verrückt, bloß ein bisschen exzentrisch und sehr religiös. Erst später, nach dem Verlust aller Menschen die ihm wirklich etwas bedeutet haben, hat es den Anschein, dass er eine wahnhafte Störung (ICD 10: F22.0) entwickelt. Andererseits kann in der Welt von Vikings auch nicht ausgeschlossen werden, dass er vielleicht einfach eine Inkarnation des mythischen Loki (Wikipedia) ist und die Götter tatsächlich zu ihm sprechen. Wer weiß das schon? 
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Cobra Kai und Karate Kid: Atem und Balance

Mister Miyagi, Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/File:Pat-Morita_(Karate_Kid).jpg

Inzwischen hat die Karate Kid Sequelserie Cobra Kai auf Netflix schon vier Staffeln. Genau wie die Filmreihe wird auch die Serie von Staffel zu Staffel schlechter, wie so oft, wenn die eigentliche Geschichte erzählt ist und Plots und Twists immer absurder werden müssen, um noch so etwas wie einen Spannungsbogen hinzubekommen. Für Karate Kid Fans ist Cobra Kai trotzdem ein großer Spaß. Wer hingegen nicht als Kind der Achtziger den Kranich geübt hat, verpasst fast nichts. 

Außer den Bezügen auf Mister Miyagis zeitlose zen-buddhistische und daoistische Weisheiten (Die 10 besten hier im Überblick), die schon die Filme zu etwas besonderem gemacht haben. Beispiel: „Wenn du fühlen das Leben geraten aus Fokus, immer zurückkehren zu Grundlage von Leben. Atmen. Kein Atem, kein Leben.“ Was vor Mister Miyagi seit Jahrhunderten schon Zen-Meister und Yogis wussten, ist inzwischen auch wissenschaftlich bestätigt: Ruhiges, gleichmäßiges Atmen entspannt und ist gesund. (mehr dazu bei Spektrum oder BBC). Dabei ist es für die Wirksamkeit ganz egal, ob man im Lotossitz vipassana-meditiert, eine Fantasiereise, Yoga oder autogenes Training macht, Rosenkranz betet oder einfach nur mit z.B. mit der kostenlosen App breathe die Atemfrequenz ganz direkt steuert: Der persönliche Zugang ist reine Geschmackssache, nur auf die Atmung kommt es an. 

Ein weiteres zentrales Thema von Cobra Kai und Karate Kid ist Balance, das Grundprinzip der einflussreichen chinesischen Philosophie des Daoismus (wikipedia). Im Tao Te King (kindle, spotify) von Laotse, quasi der Bibel des Daoismus, heißt es: 
 
Wenn gewisse Dinge als schön gelten, werden andere Dinge hässlich. Wenn gewisse Dinge als gut gelten, werden andere Dinge schlecht. Sein und Nichtsein erzeugen einander. Schwer und Leicht vollenden einander. Lang und Kurz gestalten einander. Hoch und Tief bestimmen einander. Vorher und Nachher folgen einander. 
[…] Verehrt man die Großen zu sehr, werden die Menschen kraftlos. Steht Besitz zu hoch im Kurs, beginnen die Menschen zu stehlen…“ 
 
Das ewige, um Balance bemühte Hin und Her der Gegensätze ist ein Grundmuster von Cobra Kai. Kreese, Johnny, Hawk – in jeder Generation von Cobra Kai findet sich jemand, der aus einer Erfahrung der Erniedrigung und Kleinheit heraus, Stärke und Ermächtigung durch den Weg der Faust (Zuerst schlagen, hart schlagen, keine Gnade!) strebt, was mit der Zeit ins Gegenteil umschlägt, um sich schließlich (mal mehr, mal weniger) in Richtung Mitte (Balance!) einzupendeln. 
Genauso im Miyagi-Do: Miyagi selbst ein traumatisierter Kriegsheld, Daniel ein impulsiver Heißsporn und Robby ein zynisch-rücksichtsloser Kleinkrimineller. Sie alle finden durch das auf Kontemplation und Defensivität ausgerichtete Miyagi Do-Karate zu mehr Ruhe und innerem Frieden, wenngleich auch dieser durch das ewige Ringen um Balance immer wieder ins Gegenteil umschlägt (selbst bei Meister Miyagi, wenn er den Whisky und die alten Fotos rausholt).
 
In der Medizin und Psychologie spricht man von Homöostase (wikipedia): Systeme wir Körper und Psyche streben nach Gleichgewicht durch das Ausbalancieren entgegengesetzter Kräfte: Schlaf vs. Wachheit, Aktivität vs. Entspannung, Wachstum vs. Stagnation, Beziehung vs. Selbstverwirklichung… Dabei ist die Homöostase nie ein statisches Mittelmaß, sondern immer eine dynamische Pendelbewegung. 
In der Tiefenpsychologie gehen wir, auf dem Homöostasemodell aufbauend, von sieben zentralen Grundkonflikten aus, die jeder Mensch in einer für sich individuell zu findenden Balance lösen muss, um Gesundheit, Selbstverwirklichung und gelingende Beziehungen zu erreichen, z.B.: 
  • Abhängigkeits- vs. Individuationskonflikt (Suchen von zwischenmenschlicher Nähe vs. Individueller Selbstverwirklichung) 
  • Selbstwertkonflikt (Selbstüberschätzung vs. Selbstabwertung) 
  • Schuldkonflikt (Ich bin an allem schuld vs. die anderen sind an allem schuld) 
  • (Detaillierte Beschreibungen der einzelnen Konflikte anhand von Filmbeispielen auf filmschreiben.de
 
In den Formulierungen der Grundkonflikte kommt die Bipolarität menschlichen Denkens und Fühlens zum Ausdruck. Jedes Konfliktthema lässt sich auf dem Kontinuum zwischen zwei Extremen verstehen. Je extremer und einseitiger ein Konflikt gelöst wird, umso dysfunktionaler ist dieser Modus des Erlebens und Verhaltens. Forciertes Überkompensieren kann ebenso problematisch sein, wie passive Vermeidung. Extreme Modi führen dazu, dass auf verschiedene innere und äußere Anforderungen unflexibel in immer derselben Weise reagiert wird, was das Funktionsniveau verringert, sekundäre emotionale und soziale Kollateralschäden verursacht und die Entwicklung neurotischer Symptome begünstigt. 
Beispiel: Kreese und Johnny haben zwar ähnliche Konfliktmuster – ein forciertes Überkompensieren von Unsicherheit und Kränkung durch Stärke und Dominanz – aber bei Creese ist dieses extremer und unflexibler ausgeprägt, was ihn dysfunktionaler und für seine Umwelt toxischer macht, als Johnny, der dann doch immer wieder einlenken kann und zu moderateren Lösungen kommt. 
 
Das höchste Maß an psychischem und sozialem Wohlbefinden können wir folglich erwarten, wenn alle wichtigen Konfliktthemen ausreichend stabil und dabei ausreichend flexibel ausbalanciert sind. Dieses flexible Variieren innerhalb eines der eigenen Persönlichkeit entsprechenden mittleren Bereichs sorgt für psychische Homöostase und ein hohes psycho-soziales Funktionsniveau. Oder, wie Mister Miyagi sagen würde: Balance. Um aber diese Balance ständig immer wieder neu zu finden, das Leben immer wieder neu auszubalancieren, braucht es den Gegensatz, den Konflikt. Braucht es Miyagi Do und Cobra Kai – und manchmal sogar Eagle Fang…

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Suits: Harvey Specter (Update S7)

Harvey Specter, der schicke Super-Anwalt aus Suits, zeichnet sich vor allem durch zwei Dinge aus:

  1. Er ist davon besessen zu gewinnen, wobei es ihm meist nicht primär um den Fall oder den Mandanten geht, sondern um den gegnerischen Anwalt, den er um alles in der Welt besiegen und übertrumpfen muss. 
  2. Harvey ist kompromisslos ehrlich (es sei denn, die Strategie in einem Fall verlangt es vorübergehend anders) und erwartet dies auch von allen, die mit ihm zusammenarbeiten und ihm nahe stehen. 
Während die konsequente Ehrlichkeit bewundernswert ist – verlangt sie doch große Charakterstärke – machen das zwanghafte Konkurrieren und die Brutalität, mit der er alle behandelt, die seinem Sieg im Wege stehen, Harvey nicht immer sympathisch. 
Wie Harvey so geworden ist, erfahren wir von ihm selbst und die Tatsache, dass er, der kaum einmal etwas Persönliches erzählt, Mike Ross gerade diese Schlüsselszene berichtet (wenn auch bekifft), zeigt, wie wichtig sie ist: 
Mit sechzehn Jahren fand Harvey heraus, dass seine Mutter seinen Vater, einen Musiker, betrog. Weil er den Vater nicht verletzen wollte, behielt er das Geheimnis zwei Jahre lang für sich, bis seine Mutter die Familie schließlich verließ und den Vater gebrochen und gedemütigt zurückließ. 
Der junge und verletzte Harvey zog aus seinem Schmerz, ohne sich dessen bewusst zu sein, zwei Lehren, die sein weiteres Leben bestimmen sollten.
  1. Wer sich emotional bindet und dadurch abhängig macht, wird verletzlich und kann, wenn es schlecht läuft, als geschlagener Verlierer zurückbleiben. 
  2. Lügen verletzen den Belogenen und verursachen schlimme Schuldgefühle bei demjenigen, der gelogen hat. 


Harveys Bemühen alles und jeden zu dominieren um stets Herr der Lage zu sein und sich niemals auf die Güte oder das Mitleid anderer verlassen zu müssen, sowie seine kompromisslose Ehrlichkeit, sind eine direkte (für Harvey unbewusste) Reaktion auf den Schmerz, die Schuldgefühle und die Angst, die er als Sechzehnjähriger durchlitt. 

Wenn, wie in diesem Fall, unbewusste Gefühle und Motive den Charakter eines Menschen in entscheidender Weise prägen, spricht die Psychologie von einer Reaktionsbildung
Doch auch wenn Harvey es nicht gerne zugibt, gelingt es immer wieder einzelnen Menschen, z.B. Mike und Donna, sich in sein Herz zu schleichen – auch weil sie intuitiv verstehen, dass Harvey, um sich sicher zu fühlen, in der Beziehung immer die Oberhand behalten muss. Dafür jedoch gewinnen sie einen stets loyalen Freund und Mentor, der für sie bis zum letzten zu kämpfen bereit ist. 

UPDATE – Staffel 5

Den Psychologen kann es nur freuen, dass der doch sehr glatte Harvey der ersten vier Staffeln, der so gut wie jede unerwünschte Gefühlsregung vermeiden zu können scheint, nun etwas differenziertere, weniger souveräne und damit menschlichere Züge bekommt. 
Es wird deutlich, dass Harvey, auch wenn er Gefühle wie Nähewünsche, Einsamkeit und Verlustangst sehr umfassend verdrängt, diese, wie jeder Mensch, dennoch hat. 

Nach tiefenpsychologischem Verständnis ist die menschliche Psyche bipolar aufgebaut, was uns antreibt ist nie eindimensional: Wir streben nach Selbstverwirklichung und nach Verbundenheit. Nach Kontrolle und nach Anleitung. Nach Unabhängigkeit und nach Versorgung durch andere. 

So auch Harvey: Durch Donnas kompromisslose Loyalität und Verehrung musste er sich, trotz der konsequenten Verleugnung seiner Bedürfnisse nach emotionaler Nähe, niemals wirklich alleine fühlen. Bewusst kultivierte er eine Eigen- und Fremdwahrnehmung als unabhängiger, grenzenlos selbstbewusster Draufgänger, der keinerlei sozialen Rückhalts bedarf, während unbewusst vor allem Donna ihm doch die Sicherheit vermitteln konnte, nicht alleine zu sein. 

Wie wichtig dieser andere Pol des Abhängigkeits-Unabhängigkeits-Kontinuums auch für Harvey ist, zeigt sich ihm und uns als Zuschauer erst, als die Beziehung zu Donna distanzierter wird, er sie vermutlich sogar ganz zu verlieren fürchtet.
Die lange verdrängten Gefühle von Abhängigkeit und Verlustangst werden durch den drohenden Verlust Donnas verstärkt, darüber hinaus wird vermutlich die Enttäuschung Harveys über den Vertrauensbruch seiner Mutter, welchen er ebenfalls als eine Art Verlassenwerden  erlebt hat, aktualisiert, nun, da er erneut fürchten muss, die wichtigste Frau in seinem Leben zu verlieren.

Die verdrängten Ängste drängen immer mehr ins Bewusstsein und manifestieren sich in Form von Panikattacken. Panikattacken sind  Anfälle plötzlicher, starker Angst, welche durch eine Vielzahl von Symptomen, beispielsweise Herzrasen, Brustschmerzen, Erstickungsgefühle, Schwitzen, Schwindel oder Entfremdungsgefühle gekennzeichnet sein kann. Treten diese Panikattacken ohne erkennbaren äußeren Auslöser auf, spricht man von einer sogenannten Panikstörung (ICD-10: F41.0). Da äußere Auslöser fehlen und die Betroffenen die inneren/psychischen Auslöser meist nicht direkt bewusst erkennen können, können sich nach den ersten Panikattacken sekundäre Ängste, wie z.B. einen Herzinfarkt zu erleiden, bewusstlos zu werden, oder auch verrückt zu werden, einstellen. So kann ein Teufelskreis der Angst entstehen, bei dem die „Angst vor der Angst“ zu ständiger Wachsamkeit und Schreckhaftigkeit bei kleinsten körperlichen Angstsignalen führt, was wiederum das Auftreten von Panikattacken begünstigt.

Panikstörungen werden entweder kognitiv-verhaltenstherapeutisch behandelt, wobei der Patient über die psychologischen und physiologischen Vorgänge vor und während der Panikattacken aufgeklärt wird und lernt, seine Gedanken und Wahrnehmungen bewusst zu beeinflussen. Atem– und Entspannungsübungen kommen unterstützend zum Einsatz.

 
Liegt, wie bei Harvey, ein deutlich erkennbarer innerer Konflikt als Auslöser der Panikstörung vor, bietet sich ein tiefenpsychologisches Vorgehen an, welches seine (ansonsten nicht allzu professionelle) Therapeutin Paula richtigerweise für Harvey wählt: Indem sie ihn mit seinen abgewehrten Gefühlen gegenüber Donna und seiner Mutter konfrontiert und seine Auseinandersetzung mit diesen vorantreibt, ermöglicht sie Harvey, seine aktuellen und früheren Ängste bewusster wahrzunehmen und als Teil seines Gefühlsspektrums zu aktzeptieren. Dadurch müssen sie nicht mehr verdrängt werden und in der Folge auch nicht mehr kompensatorisch in Form von Panikattacken ins Bewusstsein drängen. Dadurch erhält Harveys Eigen- und Fremdwahrnehmung zwar ein paar Kratzer in auf ihrer makellosen Oberfläche – seiner Persönlichkeit und seiner Fähigkeit, wichtige Beziehungen zu pflegen, tut dies jedoch eher gut. 
Und, ganz ehrlich, der alte Harvey war auf die Dauer doch auch zu langweilig. 
 
UPDATE – Staffel 7
 
Da ist er wieder, der alte Harvey. Die Panikattacken konnten erfolgreich behandelt werden – Paulas tiefenpsychologischer Therapieansatz war also erfolgreich. Leider bedient die Serie dann doch wieder das scheinbar unvermeidliche Klischee von der Affäre zwischen Patient und Therapeutin. Dass es, wie Harvey argumentiert, eine zeitliche Frist gibt, nach der sexuelle Beziehungen zwischen Therapeut*innen und Patient*innen unproblematisch seien, ist in Wahrheit Unsinn. Im Gegenteil: In Deutschland sind sexuelle Kontakte während einer Therapie nach § 174c StGB strafbar und auch nach Beendigung einer Psychotherapie verbieten sich sexuelle Beziehungen aus ethischer Sicht. Die therapeutsiche Beziehung ist durch und durch ungleich: Während sich die Patient*in maximal öffnet und gerade ihre schambesetzten, insuffizienten, verurteilten und bedürftigen Seiten zeigt, nimmt die Therapeut*in eine konsequent zugewandte, um Verständnis und Empathie bemühte Haltung ein, lässt aber ihre eigenen Wünsche, Bedürfnisse, Ängste, Zweifel, Nöte und Neurosen weitgehend außen vor, denn diese gehören in das Privatlegen und ggf. die eigene Selbsterfahrung oder Therapie der Therapeut*in. Dadurch entsteht eine Bezhiehung, die zur Behandlung von Krankheiten hoch funktional sein kann, aber im Bezug auf eine mögliche Liebesbeziehung völlig unrealistische Wünsche und Erwartungen fördert, die nur zu Enttäuschung und schlimmstenfalls Retraumatisierung führen können. 
Leider wird gerade durch die sexuelle Beziehung mit Paula auch der alte Harvey Sprecter etabliert: Die Rolle des Mannes, der doch auch Schwächen und Unsicherheiten hat und sich mit diesen sogar von jemandem helfen lassen muss, ist nur vorübergehend. Harvey, der immer gewinnt, erobert natürlich auch seine Therapeutin und stellt, indem er ihr schließlich das Herz bricht, das gewohnte Machtverhältnis zwischen sich und allen anderen, wieder her.
  
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13 Reasons Why/Tote Mädchen lügen nicht – Staffel 4

Während ich mir die ersten acht Folgen der vierten Staffel von 13 Reasons Why anschaute, fragte ich mich, ob es im Writers Room diesen Moment gab, wo eine der Autor*innen einen Witz machen wollte und sagte: „Hey, ich hab eine Idee: Wie wär’s, wenn wir einfach mal billigsten Teenage-Slasher-Trash machen und am Ende kommt raus, dass der Protagonist die ganze Zeit eine dissoziative Persönlichkeitsstörung hatte?“ Dann fanden alle, dass das eine super originelle Idee sei und sie hat sich nicht mehr getraut zu sagen, dass es nur ein schlechter Witz war. Zumindest kann ich mir anders dieses Ergebnis nicht erklären. 
Daher möchte ich auch auf die dissoziative Persönlichkeitsstörung, die hier in der denkbar unoriginellsten Weise erzählt wird, nicht weiter eingehen. Mehr über dieses Störungsbild – das, anders als uns in 13 Reasons Why weisgemacht werden soll, in der Regel Folge schwerster früher Traumatisierungen ist, worauf es bei Clay sonst keinerlei Hinweise gibt – kann in den Posts über Mr. Robot und Fight Club gelesen und im Podcast zu Mr. Robot gehört werden. Wer noch tiefer in die Materie eintauchen möchte, dem sei der Podcast Vielzimmerwohnung empfohlen.
Zurück zu 13 Reasons Why. Immerhin, die letzten beiden Folgen knüpfen an das Konzept der Staffeln zwei und drei an: Harte Wahrheiten über persönliche Probleme und die gesellschaftlichen Missstände, die sie mitverursachen, und dazu eine gute Portion Empowerment. Das wird am Ende bisweilen etwas kitschig, aber allemal erträglicher, als die ersten 80%. 
Positiv hervorzuheben ist jedoch über die gesamte Staffel die Darstellung von Clays Psychotherapie. Nach den dilletantischen Versuchen eines Mr. Porter, wird hier endlich ein Therapeut gezeigt, der seinen Job beherrscht. Dr. Ellman respektiert, dass Clay lange Zeit nicht bereit ist, sich ihm wirklich zu öffnen, erinnert ihn aber dennoch beständig daran, dass er bereit sein wird zuzuhören, wenn Clay bereit ist, zu reden. In Folge 4 erklärt er Clay, dass dessen Ängste nicht davon weggehen werden, dass er sie zu unterdrücken versucht, sondern dass es die Konfrontation mit den Ängsten ist, die diese letztlich weniger bedrohlich und bestimmend werden lässt. Immer wieder lässt sich Dr. Ellman darauf ein, Clay die Kontrolle über den Prozess zu überlassen, z.B. wenn dieser die Plätze tauschen will, oder ihm persönliche Fragen stellt. Er zeigt Clay damit, dass er nicht irgendein pauschales Therapieprogramm mit ihn durchziehen will, sondern glaubhaft danach strebt, Clay dabei zu unterstützen, seinen ganz eigenen Weg im Umgang mit sei en Problemen und zu einem Leben, in dem er seinen Überzeugungen und seinen eigenen Bedürfnissen gerecht werden kann, zu finden. 
Gegen Ende spürt Dr. Ellman, dass Clay sich ihm endlich anvertrauen möchte, aber weiterhin von seinen Misstrauen gegenüber erwachsenen Autoritätspersonen daran gehindert wird. Er nutzt die Technik der therapeutischen Selbstoffenbarung, indem er Clay von seinen eigenen Problemen als Jugendlicher erzählt, um sich selbst für Clay als echte Person greifbarer zu machen und ihm zu vermitteln, dass Clays Gefühle nicht so abnorm sind, wie dieser denkt. Dadurch wird Clay von seiner Scham und dem Gefühl, so anders zu sein, dass ihn ohnehin niemand verstehen können wird, ein wenig entlastet – genau das nötige Bisschen, um endlich den letzten Schritt zu gehen und seine ganze Geschichte mit Dr. Ellman zu teilen. 
Wichtig bei der therapeutischen Selbstoffenbarung ist, dass sie immer nach dem Grundsatz der therapeutischen Nützlichkeit erfolgen muss, d.h. so viel, oder so wenig, wie die jeweilige Patient*in in diesem Moment benötigt, um einerseits die Therapeut*in authentisch und als fühlendes menschliches Wesen wahrnehmen zu können, und andererseits keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass es immer und ausschließlich die Gefühle und Bedürfnisse der Patient*in und niemals die der Therapeut*in sind, denen die Aufmerksamkeit in der Therapie zusteht. Dr. Ellman erzählt Clay von sich selbst, damit dieser sich sicher und verstanden fühlt und dadurch besser über sich selbst sprechen kann, und nicht um mit einem Schwank aus seiner wilden Jugend zu prahlen. Das ist gute therapeutische Arbeit und es sind gute Szenen, in einer mehr als durchwachsenen letzten Staffel einer aufsehenerregenden und innovativen Serie. Goodbye, 13 Reasons Why!
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The Handmaid´s Tale: Trauma und Dissoziation

TRIGGERWARNUNG: Im folgenden Post geht es um sexuelle Traumatisierung & Dissoziation 
 
In der Serie The Handmaid´s Tale werden ritualisierte Vergewaltigungen durch eine christlich-fundamentalistische Sekte gezeigt, die – leider Gottes – die Herrschaft in einer dystopischen Zukunftsvision der USA übernommen hat. Unzählige Frauen werden Opfer dieser menschenverachtenden Praxis, auch unsere Protagonistin June, die in einem eindrucksvollen Monolog (S2E10) schildert, wie sich das anfühlt:
„Du siehst es wie eine Arbeit. Eine unangenehme Arbeit, die man so schnell wie möglich hinter sich bringt. Küssen ist verboten, das macht es erträglich. Man trennt sich ab. Man beschreibt. Ein Akt der Kopulation, evtl. der Befruchtung. Es bedeutet Dir nicht mehr als einer Blume die Biene. Du stählst dich, du gibst vor, nicht anwesend zu sein, nicht im Fleisch. Du verlässt Deinen Körper.“ 
Was June hier beschreibt, ist eine häufige psychische Reaktion von Opfern traumatischer Gewalterfahrungen und wird Dissoziation genannt. Grundsätzlich, d.h. im Normalzustand, sind die verschiedenen Funktionen unserer Psyche – z.B. Denken, Erinnern, Sinneswahrnehmung (Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Fühlen) und Identitätsgefühl – integriert, d.h. sie passen zusammen: Ich sitze im Sessel meines Büros, fühle das Polster an Armen, Beinen und Gesäß, höre den Regen an das Fenster prasseln, rieche den bekannten Geruch. Ich sehe den Raum, den ich kenne. Ich weiß wo und wann ich mich befinde, weiß, dass ich schon oft hier war und weiß auch, wer ich bin und warum ich immer wieder hierherkomme, usw
In traumatischen Situationen kann es jedoch sein, dass unsere Psyche überfordert wird. Was wir erleben ist mehr, als wir verkraften können: Todesangst, Scham, Ekel, Verzweiflung, Hilflosigkeit, körperlicher Schmerz… 
Die Dissoziation, bei der einzelne psychische Funktionen abgespalten werden („Man trennt sich ab“), z.B. das Bewusstsein von der Wahrnehmung des eigenen Körpererlebens („Du verlässt Deinen Körper“) ist ein sogenannter Abwehrmechanismus, ein Selbstschutz der Psyche vor Überflutung mit Unerträglichem. In der Akutsituation kann dies die letzte und einzige Rettung sein, die ein Weiterleben – psychisch und physisch – ermöglicht. 
Auf Dauer jedoch können die abgespaltenen Gefühle zu unerträglicher Anspannung führen und diese wiederum zu einer Vielzahl von Folgesymptomen, wie Ängstlichkeit, Schlaflosigkeit, Depressivität, Aggressivität, emotionaler Taubheit, Selbstbetäubung durch Suchtmittel, Selbstverletzung zur Anspannungsreduktion oder auch Suizidalität mit dem Ziel, den unerträglichen Anspannungszustand und die immer wieder – z.B. durch Flashbacks oder Alpträume – ins Bewusstsein drängenden Erinnerungen oder Gefühle zu beenden. 
In einer Traumatherapie würden diese Symptome in drei Phasen bearbeitet: 
  1. Stabilisierung: In der ersten Therapiephase wird eine vertrauensvolle Beziehung zur Therapeut*in aufgebaut und es werden Strategien im Umgang mit der akuten Symptomatik erarbeitet, die der Patient*in helfen, sich im Alltag und v.a. in akuten psychischen Krisen, selbst effektiver zu stabilisieren, z.B. Entspannungsmethoden, effektives Einfordern sozialer Unterstützung, oder andere Skills. 
  2. Exposition: In der zweiten Therapiephase, können, sofern die Patient*in sich dazu in der Lage fühlt, die traumatischen Erlebnisse, mit allen dazugehörigen psychischen Eindrücken (Erinnerungen, Gedanken, Sinneswahrnehmungen etc.) konkret besprochen und aus der schützenden Distanz der therapeutischen Situation bearbeitet werden. Dadurch soll die Dissoziation aufgelöst und das Erlebte psychisch integriert werden. Jetzt, wo die Patient*in gelernt hat, mit den Erinnerungen und Gefühlen selbstwirksam umzugehen, und Unterstützung und Halt durch die Therapie erfährt, kann das möglich sein, wovor die Dissoziation in der Situation des Traumas noch notwendigerweise geschützt hat. 
  3. Integration/Neuorientierung: In dieser letzten Phase der Traumatherapie geht es darum, über die konkrete Symptomatik hinaus, einen Umgang mit dem Erlebten zu finden. Was bedeutet es, der Mensch zu sein, dem diese schrecklichen Dinge widerfahren sind? Wie kann mein Leben von diesem Punkt an weitergehen? Was gibt meinem Leben auch und gerade jetzt noch Sinn? Usw. 
Wir können nur hoffen, dass am Ende von The Handmaid´s Tale Gilead fällt und die Mägde eine Chance auf angemessene therapeutische Unterstützung bekommen. Bis dahin können wir uns ja schonmal um unsere eigene, echte Welt kümmern.
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