Game of Thrones: Watchers, Wildlings, Whitewalkers

Wie jeder gute Mythos, bietet uns Game of Thrones die Möglichkeit, die großen und kleinen, inneren und äußeren, aktuellen und immer wiederkehrenden menschlichen Konflikte zu beobachten. Deshalb nimmt uns die Geschichte so gefangen, deshalb fühlen wir uns den Figuren so emotional verbunden. Dabei schafft es der Mythos, so zentrale Themen anzusprechen, dass wir uns alle darin wiederfinden können und gleichzeitig durch seine Phantastik und Symbolik so offen zu bleiben, dass er Projektionsfläche für die unterschiedlichsten persönlichen Gefühle und Erfahrungen sein kann. 
 
Am Beispiel der Wall, der Mauer, welche die sieben Königreiche vom namenlosen Gebiet jenseits der Mauer trennt, können wir uns die vielfältige Interpretierbarkeit des Stoffes veranschaulichen. 
Beginnen wir mit dem Offensichtlichen: Die Mauer hat den Zweck eine Gruppe von einer anderen Gruppe zu trennen. Es geht also um Sozialpsychologie. Diese Bedeutungsebene ist auch deshalb offensichtlich, weil sie uns dieser Tage vertraut ist. Wieder einmal kommen auch in unserer Welt vielerorts die Ängstlichen und Einfallslosen auf die Idee, soziale Probleme dadurch fern zu halten, dass man die Menschen, welche am stärksten von ihnen betroffen sind, aussperrt.
Genauso in Westeros. Eine diffuse und schwer zu verstehende (Was ist Wahrheit, was Lüge, was Panikmache?) Bedrohung – die weißen Wanderer – soll mit allen Mitteln ferngehalten werden, dabei werden diejenigen ausgesperrt, die der Bedrohung am nächsten sind – die sogenannten Wildlinge. Mit der Zeit werden die Wildlinge zum Synonym der Bedrohung, selbst unter denen, welche gar nicht mehr an die eigentliche Gefahr, die weißen Wanderer, glauben.
Diesen psychischen Abwehrmechanismus nennt man Verschiebung: Die weißen Wanderer sind derart schauderhaft und bedrohlich, dass ein jeder Westerosi fortan nur noch in Angst und Schrecken leben könnte, sobald er sich der Bedrohung in vollem Umfang bewusst wäre. Schlimmer noch, absolute Hilfs- und Hoffnungslosigkeit würden sich breit machen. Das eitle Treiben der machthungrigen Fürsten, der mühsame Alltag des einfachen Volkes – alles drohte in Sinnlosigkeit aufzugehen. 
Die Lösung für einen (vorübergehenden) Seelenfrieden: Die Verschiebung der Angst auf die Wildlinge. Diese sind gerade schaurig genug, aber nicht so übermächtig und mystisch, dass sie nicht durch eine hohe Mauer und ein paar beherzte Grenzer ferngehalten werden könnten.
Die eigene, unerträgliche, rational kaum zu erfassende Angst wird also einer Gruppe von anderen zugeschrieben und in dieser stellvertretend bekämpft. Das sollte uns bekannt vorkommen.
Um aber eine Gruppe von Menschen willkürlich ausschließen und zum Träger allen Übels bestimmen zu können, muss ein weiterer psychologischer Abwehrmechanismus zum tragen kommen: Das Motiv zur Reduktion kognitiver Dissonanz. Als kognitive Dissonanz wird der unangenehme innere Spannungszustand bezeichnet, der entsteht, wenn Teile unseres Denkens, Fühlens oder Handelns nicht mit unseren eigentlichen Grundüberzeugungen konform gehen. Um kognitive Dissonanz zu reduzieren, verändern wir unbewusst unsere Wahrnehmung, um sie wieder stimmig zu machen. So werden die Westerosi, die zufällig nördlich der Linie lebten, auf der willkürlich die Mauer erbaut wurde, zu Wildlingen. Schon dieser Name ist eine Entmenschlichung, in der Konfliktforschung würde man von Opferabwertung sprechen. Für Wildlinge gelten keine Menschenrechte, wer einen Menschen ohne triftigen Grund tötet, muss sich, auch in Westeros, zumindest vor Gericht verantworten. Wildlinge zu töten ist per se eine Heldentat.
So führen die Herrscher von Westeros ihre kleinlichen Kriege und verschließen die Augen, vor der großen gemeinsamen Bedrohung. Die Lösung läge in der Kooperation statt in der Konkurrenz. Im Miteinander, statt im Gegeneinander. Jon Snow hat das erkannt. Aber werden die Mächtigen seiner Welt ihm zuhören?
Damit verlassen wir die sozialpsychologische Ebene und wenden uns der individuellen Interpretationsebene und hier der Tiefenpsychologie zu. Denn wir können die Mauer auch als tiefenpsychologische Metapher verstehen. Als Sinnbild für die innere Verdrängung des Unheimlichen. Mit der Psychologie des Unheimlichen hat sich bereits der Urvater der Psychoanalyse, Sigmund Freud, befasst. Seiner Beobachtung nach, entsteht das Gefühl des Unheimlichen, wenn unerwartet etwas in unser Bewusstsein vordringt, das wir entweder verdrängt, oder nur vermeintlich und unvollständig rational überwunden haben.
Hinter der Mauer in Game of Thrones lauern weiße Wanderer und Untote, die wir, in beiderlei Hinsicht, als Inbegriff des Unheimlichen verstehen können. Konfrontieren sie uns doch sowohl mit unserer Angst vor Geistern und Halbwesen, die wir längst rational überwunden glaubten, die uns aber im mystischen Halbdunkel einer Game of Thrones-Episode gleichwohl heimzusuchen vermag. 
Als auch mit dem Tod an sich, dessen wir uns in seiner Unausweichlichkeit zwar rational bewusst sind, den wir jedoch die meiste Zeit unseres Lebens gekonnt verdrängen, um nicht in Angst und Verzweiflung zu erstarren, sondern unser Leben so leben zu können, als seien wir Herr über unser Schicksal. 
Wenn in Gegenwart des Todes, oder der Nacht als seines Sinnbilds, die Verdrängung brüchig wird, suchen wir Trost und Versicherung im Gebet: „Night gathers, and now my watch begins…“
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Star Wars: Die Radikalisierung des Anakin S.

„Wenn Ihr nicht auf meiner Seite steht, dann seid Ihr mein Feind!“
Anakin Skywalker, Star Wars: Episode III – Die Rache der Sith
Die Radikalisierung junger Männer und Frauen gehört zu den drängenden Problemen unserer Zeit* und wir fragen uns immer wieder, wie es dazu kommt. Dabei müssen wir – wie so oft – eigentlich nur Star Wars aufmerksam schauen.
Der junge Anakin Skywalker wächst als Kind einer alleinerziehenden Mutter auf, die Vaterschaft ist ungeklärt. Da er nichts anderes kennt, erlebt er die Sklaverei in der er lebt als nicht weiter bedrückend und nutzt die Spielräume, die ihm seine Kreativität und Intelligenz eröffnen, im Rahmen des möglichen weidlich aus, um sich und seine Freunde zu unterhalten. Man mag annehmen, dass einem Jungen von seinen Begabungen die Zwänge der Sklaverei irgendwann bewusst und zu eng geworden wären – zum Zeitpunkt des Eintreffens von Qui-Gon Jinn ist davon jedoch noch nichts zu spüren.
Dieser Qui-Gon Jinn ist nun ein außerordentlich überzeugter und spiritueller Jedi. Glaubt er doch an eine alte Prophezeiung, die selbst innerhalb des Ordens umstritten ist, nach der ein Auserwählter die Macht ins Gleichgewicht bringen wird. Diesen Auserwählten meint er in Anakin gefunden zu haben. Zumindest dürfte ihm klar sein, dass Anakin – Prophezeiung hin oder her – das Potential zu einem mächtigen Krieger hat, welchen auf die eigene Seite zu ziehen, von Vorteil sein sollte.
Die Entschiedenheit, mit der Qui-Gon den jungen Anakin aus seinem alten Leben heraus und in die Ausbildung als Jedi hinein holt, zeigt ein wesentliches, nicht unproblematisches Charakteristikum der Jedi: Sie sind vorbehaltlos davon überzeugt, auf der einzig richtigen Seite zu stehen. Zugegebenermaßen mit guten Argumenten: Demokratie, Genügsamkeit, Kontemplation sind ehrbare Prinzipien. Dennoch: Qui-Gon übersieht völlig, in welchen inneren Konflikt er Anakin stürzt, der sich, folgt er dem Ruf des mächtigen Jedi – und damit der vermeintlichen Selbstverwirklichung – von seiner Mutter, der bis dahin wichtigsten, ja einzigen Bezugsperson in seinem Leben trennen muss. Die Halbherzigkeit des Versuchs, auch die Mutter zu befreien, lässt angesichts der Macht Qui-Gons, den Schluss zu, dass es sogar sein eigentliches Ziel ist, den Jungen von seinen weltlichen Bindungen loszureißen um ihn ganz und gar seiner religiösen Bestimmung zuzuführen.
Es ist der erste Punkt in Anakins Entwicklung, an dem er von seinen Meistern kein Verständnis für seine Gefühle und seinen Wunsch nach liebevoller Bindung erfährt. Weitere werden folgen. Obi-Wan, Windu und Yoda geben Anakin immer wieder zu verstehen, dass seine Angst um seine Mutter, sein Wunsch diese zu retten, seine Liebe zu Padme, seine Sorge um diese und ihre Kinder, seine existenzielle Angst davor, ein zweites Mal die wichtigste Person in seinem Leben zu verlieren, unreif, falsch und verwerflich seien.
Dies ist das Versagen der Jedi. Und für uns die erste Lektion über Radikalisierung:
Natürlich ist es die Pflicht, gut ausgebildeter, saturierter und gesellschaftlich hoch angesehener Eliten (wie der Jedi), edle Werte und hohe moralische Ansprüche zu vertreten. Geschieht dies jedoch ohne Verständnis und Respekt für zutiefst menschliche Gefühle, Ängste und innere Konflikte (wie sie nicht nur den jungen, entwurzelten Anakin plagen), bleiben zu viele mit dem Gefühl allein, in diesem Wertesystem keine Heimat zu haben, von den selbstgefälligen Eliten beschämt und herabgewürdigt zu werden.
Damit machen es die Jedi dem Verführer Palpatine allzu leicht. Als erste Autoritätsperson gibt er Anakin das Gefühl, dass seine Emotionen legitim sind, dass er sie gar verstehen könne und Anakin sich dieser nicht zu schämen brauche. Der zweite Schritt der Verführung Anakins für Palpatines Zwecke ist, dass er ihm eine vermeintliche, in Wahrheit aber unrealistische, Lösung für seinen inneren Konflikt anbietet. Auf der dunklen Seite könne er beides haben: Macht, Ansehen und Selbstverwirklichung sowie den Schutz seiner großen Liebe – selbst über den Tod hinaus. Das klingt wunderbar und Anakin, der seine Angst und auch seinen Stolz so lange beschämt verbergen musste, saugt jedes Wort auf.
Dies ist die wahre Macht der dunklen Seite. Und für uns die zweite Lektion über Radikalisierung:
Wenn die helle Seite, die für Demokratie und Menschenrechte eintritt, die Ängstlichen und innerlich Zerrissenen nicht wahrhaft annehmen, sondern nur umerziehen will, treibt sie diese der dunklen Seite mit ihren vereinfachenden Antworten direkt in die Arme.
So einfach ist das. Aber man muss es immer wieder sagen: Darth Vader ist kein böser Mensch. Er ist einfach nur ein Mensch. Er möchte geliebt werden und verbunden sein. Erst mit seiner Mutter, dann mit seiner Frau, schließlich mit seinem Sohn. Das Entscheidende an seinem Wunsch gemeinsam über die Galaxis zu herrschen, wie er ihn fast wortgleich sowohl Padme (Episode III) als auch Luke (Episode V) offenbart, ist die Gemeinsamkeit, nicht das Herrschen. Darum entscheidet er sich als junger Jedi für die dunkle Seite. Und darum wendet er sich schließlich gegen sie für einen letzten friedlichen Moment mit seinem Sohn. 

*Dieser Text wurde im Rahmen des Themenschwerpunktes „Radikalisierung“ auch auf filmschreiben.de veröffentlicht
 

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Stromberg: Bernd Stromberg

Na gut, obwohl ich kaum etwas davon gesehen habe, äußere ich mich jetzt doch einmal zu dem außerordentlich bekannten und gehassliebten Herrn Stromberg aus der gleichnamigen ProSieben-Serie. 
Bernd Stromberg scheint mir vor allem durch Opportunismus, Zynismus, geringe Sozialkompetenz und mangelhafte Selbsteinschätzung aufzufallen. 
Sein Verhaltensmuster könnte Hinweis auf Züge einer passiv-aggressiven Persönlichkeitsstörung sein. Personen mit dieser Störung fällt es schwer, soziale Konflikte offen auszutragen und ihre Meinungen und Gefühle direkt zum Ausdruck zu bringen. Stattdessen zeigen sie sich oberflächlich angepasst und willfährig, leisten aber passiven Widerstand durch Verweigerung oder Verzögerung von Aufgaben, geben Pflichten und Aggression nach Unten weiter und zeigen eine zynisch-frustrierte zwischenmenschliche Haltung.
Ursächlich könnte die Angst bzw. die Erfahrung sein, mit der eigenen Meinung und Persönlichkeit nicht wirklich gehört und wergeschätzt zu werden. Somit stellt die passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung einen pathologischen Lösungsversuch des psychischen Konflikts zwischen resignativer Unterwerfung und weiterbestehenden Kontroll- und Selbstbehauptungswünschen dar.
Die passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung wird in der in Deutschland verbindlichen Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) nur im Anhang genannt (unter der Bezeichnung negativistische Persönlichkeitsstörung, ICD-10: F60.80). Detaillierte Diagnosekriterien finden sich in der in den USA gängigen Klassifikation Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV).
Zur Diagnose der Störung müssen mindestens vier der folgenden Kriterien dauerhaft und situationsübergreifend vorliegen:
  • Widersetzt sich passiv der Erfüllung sozialer und beruflicher Routineaufgaben
  • Beklagt sich, von anderen missverstanden und missachtet zu werden
  • Ist mürrisch und streitsüchtig
  • Übt unangemessen Kritik an Autoritäten und verachtet sie
  • Bringt denen gegenüber Neid und Groll zum Ausdruck, die offensichtlich mehr Glück haben
  • Beklagt sich übertrieben und anhaltend über persönliches Unglück
  • Wechselt zwischen feindseligem Trotz und Reue
Mögen die Strombergfans selbst entscheiden. Bernd Stromberg drückt es in Stromberg – Der Film so aus:

„Hier in dem Laden scheißen sie dir auf den Kopf und du sagst auch noch: Danke für den Hut.“
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Flesh and Bone: Mia

Viele der Balletttänzerinnen in Flesh and Bone zeigen (worauf der Serientitel schon hinweist) Symptome von Essstörungen. Am deutlichsten ersichtlich werden diese bei Claires Mitbewohnerin Mia, deren Essstörung in der Serie auch thematisiert wird.

Mia leidet unter einer Anorexia nervosa, der Krankheit, die als Magersucht bekannt ist. Nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F50.0) ist eine Anorexia nervosa zu diagnostizieren, wenn die folgenden Symptome vorliegen:  
  • Das Körpergewicht liegt unter einem Body-Mass-Index (BMI) von 17,5 
  • Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch Vermeidung von hochkalorischer Nahrung
  • Körperschemastörung
  • Amenorrhoe (Ausbleiben der Periode)

Der BMI wird nach folgender Formel berechnet: (Körpergewicht in kg) : (Körpergröße in m)². Bei Mias geschätzter Körpergröße von etwa 1,75 läge die Grenze bei einem Körpergewicht von 53,6 kg.
Dass sie nur sehr wenig bzw. sehr selten isst, wird immer wieder thematisiert, zum Beispiel wenn Mia Claire, nur scheinbar scherzhaft, berichtet, sie habe sich einen Keks nur gekauft, um ihn anzusehen, oder als Claire ihr im Streit sagt, sie habe sie mit Essen im Mund gar nicht erkannt. Sich leckeres, hochkalorisches Essen, vor allem Süßigkeiten, aufzuheben um es anzusehen oder daran zu riechen und sich dadurch einerseits eine visuelle oder olfaktorische Ersatzbefriedigung zu verschaffen, andererseits der eigenen Willensstärke zu versichern, ist eine nicht seltene Strategie von Menschen mit Anorexia nervosa. Ebenso typisch ist, dass Mia offenbar nie vor anderen isst, da das Essen zu etwas schambesetztem geworden ist und sie Angst davor hat, ihr Essverhalten könne kritisch beobachtet und bewertet werden.    
Neben dem restriktiven Essen nimmt Mia, wie sie ihrem Arzt berichtet, Diätpillen (Appetitzügler) und Abführmittel ein.
Ob Mia eine Körperschemastörung hat, das bedeutet, ob sie ihren Körper oder einzelne Körperregionen, trotz ihres Untergewichts weiterhin als zu dick wahrnimmt, wissen wir nicht genau. Ebenso ist uns nicht bekannt, ob sie ihre Periode noch bekommt. 
Diese beiden Merkmale der Anorexia nervosa werden aber wiederholt durch die anderen Tänzerinnen in Flesh and Bone gezeigt. Zum Beispiel, wenn eine von ihnen offenbar sehr überrascht, fast schockiert ist, als sie ihre Tage bekommt und auch die anderen (bis auf Claire) mit eigenartigem Ekel scheinbarer Verachtung darauf reagieren. Oder wenn zum Beispiel Claires eher normal große Brüste immer wieder abfällig als zu groß beurteilt werden. Auch das restriktive Essen scheint unter den Tänzerinnen weit verbreitet, was deutlich wird, wenn sie die Schwangere Mitarbeitern der Ballettschule mit oberflächlicher Verachtung, aber deutlich spürbarem unterschwelligem Neid beim Essen von Fast Food beobachten. 

Bis heute sind die genauen Ursachen der Anorexia nervosa und deren Interaktion nicht vollständig wissenschaftlich geklärt. Vieles spricht aber für ein Zusammenspiel von genetischer Veranlagung, gesellschaftlichen, familiären und persönlichen Faktoren.  
Ob in Mias Familie gehäuft Essstörungen auftreten, was auf eine genetische Veranlagung hinweisen würde, wissen wir nicht. Sollte es so sein, würden Psychologen von einer genetischen Disposition sprechen, das heißt, durch die genetische Veranlagung besteht ein erhöhtes Risiko, an einer Essstörung zu erkranken, aber nur, wenn zusätzlich gesellschaftliche Faktoren sowie familiäre und/oder persönliche Auslöser hinzukommen.  

Gesellschaftlichen Einflüssen, welche die Entwicklung einer Anorexia nervosa fördern, ist Mia fraglos zur Genüge ausgesetzt. Nicht nur, dass sie wie die meisten Mädchen in der westlichen Welt unserer Zeit von dünnen Puppen über dünne Popstars bis zu den dünnen Mädchen in Topmodel-Shows mit unrealistischen Ansprüchen an die weibliche Figur indoktriniert wurde (tatsächlich gaben in einer Studie 39% der an Anorexia nervosa erkrankten Frauen und Mädchen an, Germanys next Topmodel habe ihre Krankheit besonders beeinflusst), sie bewegt sich als Tänzerin auch noch in einem Umfeld, in dem der soziale Druck und die Kritik im Hinblick auf die eigene Figur ins Extrem getrieben werden.  

Familiäre Faktoren, die den Ausbruch einer Essstörung begünstigen können, liegen vor, wenn in Familien starke, oft unausgesprochene Konflikte bestehen oder Familien extremen Wert auf Aussehen, Leistung, gesunde Ernährung und das äußere Ansehen der Familie legen. In der Person von Mias Mutter finden wir all dies prägnant verkörpert.  
Last but not least bestehen bei Mia diverse persönliche Risikofaktoren: Sie ist permanent hohem Stress und großem Leistungsdruck ausgesetzt. Sie hat unter den Tänzerinnen keine gute Freundin, findet, trotz einiger Versuche, keinen Freund und hat, trotz größter Anstrengung, als Tänzerin nicht den Erfolg, den sie sich erhofft.  
Leider gelingt es Mia nicht, ihre Anorexia nervosa zu überwinden, bevor sie an der schweren körperlichen Erkrankung Multiple Sklerose erkrankt. Aus Verzweiflung darüber versucht sie, sich das Leben zu nehmen. Zum Glück wird sie rechtzeitig von Romeo entdeckt und kann (zumindest vorerst) gerettet werden. In der Klinik werden die Ärzte auch auf ihre Essstörung aufmerksam. Zudem bemüht Claire, die von Mia als ihre schärfste Konkurrentin wahrgenommen wurde, sich um sie und zeigt ihr damit, dass es wichtigeres als Perfektion und Erfolg gibt. Vielleicht wird so die zweite schwere Krankheit in Mias Leben zum Wendepunkt…
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Flesh and Bone: Claire

Das Titelbild der Starz-Miniserie zeigt eine dünne, fast nackte Tänzerin in düsterer, ebenso fast nackter Umgebung. Der Titel lautet Flesh and Bone. Setting ist das Ballett. Man muss nicht allzu kreativ sein, um sich auszumalen, dass es um Leistungsdruck, Selbstwertprobleme, Essstörungen und sexuellen Missbrauch gehen wird. 
Und – so die Erkenntnis nach den ersten beiden Folgen – so ist es dann auch.
Anders als in der parallel laufenden, heiteren Amazon-Serie Mozart in the Jungle, wo Leistungsdruck und Selbstausbeutung der New Yorker Symphoniker immer wieder durch die Liebe zur klassischen Musik und die auf dieser gemeinsamen Basis entstehenden Begegnungen und Beziehungen belohnt werden, ist der Ballettbetrieb in Flesh and Bone ein feindseliger und traumatisierender Ort, an dem jeder (mehr oder weniger erfolgreich) für sich selbst und (meist weniger erfolgreich) gegen die eigenen Dämonen kämpft.
Diese Dämonen sind Selbstzweifel, Versagensängste, Essstörungen, Drogensucht und Traumata. Schon in der ersten Folge erfahren wir, dass Claire wiederholt sexuell missbraucht wurde – und zwar von ihrem Bruder. Wie viele (aber, entgegen mancher Darstellung nicht alle) Opfer sexuellen Missbrauchs, zeigt Claire Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F43.1). 
Sie war, was die Grundvoraussetzung ist, einem Erlebnis von außergewöhnlicher emotionaler Belastung ausgesetzt. Da sich dieses Erlebnis über einen längeren Zeitraum immer wieder wiederholt hat, spricht man von einem Typ-II-Trauma (im Gegensatz zum Typ-I-Trauma, bei dem der Auslöser ein einzelner Vorfall von katastrophalem Ausmaß, z.B. ein Gewaltverbrechen oder eine Naturkatastrophe ist).
Das Risiko, eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln ist besonders hoch bei Typ-II-Traumata, die durch nahestehende Personen ausgelöst werden, wobei es sich meist um körperliche Gewalt, psychischen oder eben sexuellen Missbrauch handelt. Das erhöhte Erkrankungsrisiko ergibt sich vermutlich daraus, dass den Betroffenen oft Mitverantwortung und Schuldgefühle vermittelt werden, die Gefühle gegenüber dem Täter widersprüchlich sein können, sie sich aufgrund von Scham- und Schuldgefühlen oder Angst vor Strafe und Stigmatisierung keine Hilfe holen oder das Erlebte durch andere Bezugspersonen infrage gestellt, bagatellisiert oder verheimlicht wird.

Claires posttraumatische Belastungsstörung zeigt sich in Form der folgenden, charakteristischen Symptome:

  • Sie erlebt eine starke innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder damit in Zusammenhang stehen. Am offensichtlichsten ist dies bei Kontakt zu ihrem Bruder, dem Täter. Aber auch in anderen Situationen, in denen sich ihr Männer ungefragt oder unerwartet körperlich annähern, wie zum Beispiel ihr Tanzlehrer, Tanzpartner oder der Hauptsponsor des Balletts, fühlt sie sich sichtlich sehr unwohl.
  • Folglich versucht sie, entsprechende Situationen zu vermeiden. Sie bleibt gegenüber Männern distanziert und scheint keine Freude daran zu haben, sich verführerisch zu kleiden oder zu flirten.
  • Sie zeigt deutliche Symptome chronisch erhöhter psychischer Erregung, wie Hypervigilanz (erhöhte Wachsamkeit) und Schreckhaftigkeit (insbesondere bei Berührungen und im Kontakt mit Männern) sowie Einschlafstörungen.
Drei weitere Aspekte von Claires posttraumatischer Belastungsstörung sind zwar für die Diagnosestellung nicht erforderlich, aber dennoch interessant genug, um eigens thematisiert zu werden.

1. Claire verletzt sich selbst. Selbstverletzendes Verhalten (häufig in Form von Ritzen mit Rasierklingen oder Verbrennen mit Feuerzeugen oder Zigaretten) kann infolge sexuellen oder psychischen Missbrauchs auftreten. Claire schlägt sich mit ihrem Ballettschuh auf den Fuß und das immer in Situationen, die direkt oder indirekt mit ihrem Trauma zu tun haben, nämlich bei Kontakt zu ihrem Bruder, oder wenn sie beispielsweise von ihrem Tanzlehrer erniedrigt wurde, was die alten Scham- und Schuldgefühle reaktualisiert haben dürfte. Dabei scheint die Selbstverletzung den Effekt zu haben, dass intensive der physische Schmerz für einige Momente die noch schlimmeren Gedanken und Gefühle verdrängt und die Situation dadurch erträglicher macht.

2. Claire behandelt ihre Einschlafstörungen indem sie ihren ganzen Körper mit Büchern beschwert. Wie oben beschrieben, sind Schlafstörungen ein typisches Symptom posttraumatischer Belastungsstörungen. Claires Behandlungsmethode ist dagegen eher ungewöhnlich, gleichwohl aber kreativ und scheint für sie gut zu funktionieren. Sie bedient sich dabei (vermutlich ohne dies zu wissen) des therapeutischen Effekts, dass das Gefühl von Schwere mit muskulärer Entspannung assoziiert ist und somit zunächst körperliche und in der Folge auch psychische Entspannung fördern kann. Therapieverfahren die diesen Effekt ebenfalls nutzen sind zum Beispiel die Schwereübung im Autogenen Training oder der Einsatz von Sanddecken in der Körpertherapie.

3. Claire wird als Balletttänzerin ständig retraumatisiert. Ohne dies bewusst zu beabsichtigen, setzt sie sich immer wieder Situationen aus, die mehr oder weniger deutlich an ihre traumatische Missbrauchserfahrung erinnern. Als Tänzerin ist sie Objekt sexueller Begierde, wird auf ihre Physis reduziert, die Persönlichkeit ist uninteressantes oder gar störendes Beiwerk. Ihr Körper wird entblößt, öffentlich zur Schau gestellt, kritisch bewertet, ungefragt angefasst und erbarmungslos geschunden. Dennoch setzt sie alles daran, Tänzerin zu sein und zu bleiben. Psychologen sprechen hierbei von Reinszenierung oder auch von Wiederholungszwang.

Es gibt verschiedene Erklärungen für dieses Phänomen. Zum einen ist denkbar, dass Claire durch die ständige Konfrontation mit diesen für sie so unangenehmen Erfahrungen ein hohes Erregungsniveau aufrecht erhält und somit unbewusst verhindert, dass in ihrem Bewusstsein Raum für die Erinnerung an ihr ursprüngliches Trauma und damit für die noch unangenehmeren Gefühle und Gedanken entsteht.

Ein alternativer Erklärungsansatz wäre ein unbewusster Wiedergutmachungswunsch: Claires ursprüngliche Traumatisierung ist geschehen und nicht mehr aus ihrer Lebensgeschichte zu löschen. Indem sie immer wieder Situationen aufsucht, die zwar ähnlich sind, aber im Hier und Jetzt stattfinden, wo sie sich, zumindest theoretisch, verteidigen oder innerlich stärker abgrenzen könnte, versucht sie unbewusst, eine bessere Erfahrung zu machen, sich selbst nicht als Opfer, sondern wehrhaft und stark zu erleben und somit ihre früheren Gefühle von Hilflosigkeit, Schuld und Scham zu überwinden.

Die Tragik besteht darin, dass Claire dieser Zusammenhang nicht bewusst ist, wodurch sie immer wieder von ihrer eigenen Reinszenierung überrascht wird, unvorbereitet in für sie bedrohliche Situationen gerät und ihre alten Wunden umso mehr schmerzen.

Und siehe da: Auf einmal verstehen wir doch, warum Claire sich all dem aussetzt. Warum sie tanzt und tanzt, hinfällt und weitertanzt, als ginge es um ihr Leben. Es geht tatsächlich darum, ob ein neues Leben, auch und gerade mit den alten Wunden, möglich ist. Man darf gespannt sein, wie der Tanz auf Messers Schneide endet.


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Into the Badlands: Trauma als Chance

Die erste Staffel von Into the Badlands scheint erst der Auftakt zu einer längeren Geschichte zu sein und lässt uns über die weitere Handlung und die tieferen Themen, zugunsten des Schwerpunkts auf Ästhetik und Martial Arts-Action, zunächst noch im Unklaren.
Es scheint sich aber eine Reise, möglicherweise eine Art Odyssee, anzukündigen. Die Odyssee im Speziellen und das Motiv der Reise im Allgemeinen werden psychologisch meist als Metapher für die Entwicklung der Persönlichkeit gesehen, bei welcher ebenfalls richtige Wege gefunden, Probleme gelöst, aus Fehlern gelernt, Hürden überwunden und gegen Widerstände beharrt und trotz Frustration und Verzweiflung weitergegangen werden muss. Meist lockt am Ende die Heimkehr, gleichsam die Selbstfindung, und mit der einen wie der anderen ein relativer, zumindest für einige Zeit stabiler, Seelenfrieden.

Wohin die Reisen von Sunny und M.K. in Into the Badlands führen werden, wissen wir noch nicht – die erste Staffel scheint eher dem Zweck zu dienen uns klar zu machen, woher, sprich: Aus welcher äußeren und inneren Situation, die beiden kommen. Die Welt von Into the Badlands ist eine Welt des Traumas, wie uns bereits im Intro der ersten Folge vermittelt wird: Die Kriege liegen so lange zurück, dass sich niemand mehr an sie erinnert. Dunkelheit und Angst regierten das Land… Diese Welt wurde auf Blut errichtet. Hier ist niemand mehr unschuldig

Nahezu alle Protagonisten sind traumatisiert, das heißt, sie waren Erlebnissen und Erfahrungen von außergewöhnlicher Bedrohung und emotionaler Belastung ausgesetzt. 
  • Sunny ist ein Waisenkind und Kindersoldat, der bereits als Knabe töten musste um nicht selbst getötet zu werden und bis heute unzählige Male dazu gezwungen war.
  • Gleiches gilt für Quinn.
  • M.K. wurde entführt, seine Angehörigen ermordet.
  • Auch Ryder wurde entführt und dabei noch gefoltert.
  • Tilda wurde sexuell missbraucht.
  • Veil verliert ihre Eltern auf brutale Weise.
Und das ist nur das, was wir bisher wissen…
In der Psychopathologie unserer Welt werden verschiedene psychische Störungen beschrieben, die als Reaktion auf ein Trauma auftreten können.

Die wohl geläufigste in diesem Zusammenhang ist die Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1), die sich unter anderem durch Alpträume, Flashbacks (lebhafte, traumartige Erinnerungen während des Wachseins), erhöhte Schreckhaftigkeit, innere Anspannung, Reizbarkeit und Impulsivität auszeichnet, so wie wir sie bei Sunny und M.K. beobachten können.
Bei länger andauernden oder wiederholten Traumatisierungen kann anstelle oder infolge einer Posttraumatischen Belastungsstörung auch eine Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (ICD-10: F62.0) auftreten. Diese kann durch eine feindselige oder misstrauische Grundhaltung, sozialen Rückzug, chronische innere Anspannung sowie Gefühle von Bedrohung durch Andere, Entfremdung, Leere, Hoffnungslosigkeit und Selbstzweifel gekennzeichnet sein. Ein solches Symptombild erkennen wir bei Ryder, der das Trauma seiner Entführung vielleicht deshalb so schlecht verarbeitet hat, weil er zusätzlich den ständigen Zweifeln und Entwertungen seines Vaters ausgesetzt war.
Ebendieser Vater, Quinn, wiederum zeigt eine weitere psychische Störung, deren Auftreten durch traumatische Erlebnisse zumindest begünstigt werden kann. Indem er seine eigenen Gefühle mit Opium betäubt und sich so das für seine Gewaltherrschaft nötige Selbstbewusstsein künstlich zuführt hat er ein Opioid-Abhängigkeitssyndrom (ICD-10: F11.2) entwickelt.


Zumindest für Sunny und M.K. besteht allerdings noch Hoffnung. Der Leidensdruck des unverarbeiteten Traumas ist der Motor des Aufbruchs zur Veränderung. Ob man die Badlands verlassen will, oder sich seinen Traumata in einer Psychotherapie stellen muss, immer ist der Erfolg ungewiss und die Vorstellung vom Ziel allenfalls vage. Doch nur wer sich auf die Reise begibt, hat die Chance, zu sich selbst zu finden.
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Transparent: Die Geschichte von Mort und Maura

Die Amazon-Serie Transparent dreht sich um den Politikprofessor Mort Pfefferman, der sich eines Tages, bereits im Rentenalter, dazu entschließt, fortan als Frau namens Maura zu leben. Mort ist transsexuell, das bedeutet, sein Körper ist anatomisch und hormonell männlich, dennoch empfindet er sich selbst kognitiv und emotional als Frau.

In den ersten Folgen begleiten wir Mort bei einem schrittweisen Outing und erleben, wie sein Umfeld darauf reagiert. Auch Morts Ängste vor Ablehnung und Stigmatisierung werden in seiner Vorsicht, seinem Zögern deutlich – gerade gegenüber den eigenen Kindern, da ihm die Beziehungen zu diesen besonders viel bedeuten.

Tatsächlich fällt es den Kindern nicht leicht, mit der äußeren Veränderung ihres Vaters umzugehen. Obwohl sie ihn lieben. Obwohl sie allesamt liberal und weltoffen eingestellt sind. Trotz eines gewissen Hangs zu sexueller Unkonventionalität und Experimentierfreude. Und obwohl sie selbst immer wieder Mühe damit haben, herauszufinden, wer und wie sie eigentlich sind.

Auch die Psychiatrie hat sich mit der Akzeptanz von Transsexualität bisher schwer getan. Während der überwiegende Teil praktisch tätiger Psychotherapeuten Transsexualität nicht als krankhaft begreift, findet sie sich in der aktuellen internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F64.0) unter der Rubrik Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen noch immer als Störung der Geschlechtsidentität unter der folgenden Definition:
Konstanter Wunsch, als Angehöriger der andren Geschlechtes zu leben und als solcher akzeptiert zu werden, in der Regel (aber nicht zwingend) verbunden mit dem Wunsch, den eigenen Körper durch chirurgische und hormonelle Behandlungen dem bevorzugten Geschlecht anzugleichen.
Es gehört zur traurigen Geschichte der Psychiatrie, dass die Notwendigkeit, Krankheiten zu definieren, immer wieder zur Pathologisierung von Erleben und Verhalten führt, das von der Norm, also vom Durchschnitt abweicht. So wurde zum Beispiel Homosexualität erst 1992 (!) mit erscheinen der zehnten Auflage der internationalen Krankheitsklassifikation (ICD-10) aus dem Katalog psychischer Störungen gestrichen und als gesunde Variante menschlichen Seins anerkannt.
In der elften Auflage (ICD-11), die voraussichtlich 2017 verbindlich eingeführt werden soll, wird sich auch die Transsexualität nicht mehr als psychische Störung finden.

Andere Fragen bleiben hingegen offen: Wann wird Traurigkeit zur Depression, wann Aufgedrehtheit zur Hyperaktivität, PMS zur Prämenstruellen dysphorischen Störung…

Fakt ist – und das lehrt uns, nicht nur an Mauras Beispiel, auch Transparent mit seinen vielen unkonventionellen und mehrschichtigen Figuren – dass Menschen unterschiedlich sind und jeder Mensch in vielerlei Hinsicht mehr oder weniger stark vom Durchschnitt abweicht. Wer darunter leidet braucht Hilfe, die anderen Verständnis und Respekt.

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Mr. Robot: Elliot

SPOILERWARNUNG: Wer die erste Staffel von Mr. Robot noch nicht bis zum Ende gesehen hat, sollte hier nicht weiterlesen, da der Text überraschende Wendungen zum Ende der Staffel vorwegnimmt.

Elliot Alderson aus Mr. Robot hat zunächst eine recht typische soziale Phobie, das heißt er hat Angst vor sozialen Situationen, also Essenseinladungen, Small-Talk usw. In der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F40.1) ist diese durch die folgenden Symptome definiert: 
  • Deutliche Furcht im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten
  • Deutliche Vermeidung im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder von Situationen, in denen die Furcht besteht, sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten
  • Mindestens zwei Angstsymptome in den gefürchteten Situationen, z.B. Erröten, Zittern, Schwitzen etc.
  • Deutliche emotionale Belastung durch die Angstsymptome oder das Vermeidungsverhalten.
  • Einsicht dass die Symptome oder das Vermeidungsverhalten übertrieben und unvernünftig sind
  • Die Symptome beschränken sich ausschließlich oder vornehmlich auf die gefürchteten Situationen oder auf Gedanken an diese
Elliots Vermeidungsverhalten, also sein weitgehender sozialer Rückzug, macht ihn jedoch so einsam, dass er seine Gefühle mit Drogen dämpfen muss. Dadurch gerät er in einen Teufelskreis aus Angst, Vermeidung und Selbstvorwürfen. Elliot nimmt vor allem Morphin, ein stark wirksames Schmerz- und Betäubungsmittel aus der Gruppe der Opioide, ein, konsumiert aber auch Cannabis, Extasy und das ebenfalls opioidhaltige Entzugsmittel Suboxone. Während er die leichteren Drogen scheinbar eher unter Kontrolle hat, zeigt Elliot deutliche Anzeichen einer Opioidabhängigkeit (ICD-10: F11.2):
  • Starkes Verlangen, die Substanz zu konsumieren
  • Verminderte Kontrolle oder Kontrollverlust über Beginn, Beendigung oder Menge des Konsums
  • Körperliche Entzugserscheinungen, wenn die Substanz reduziert oder abgesetzt wird
  • Toleranzentwicklung, d.h. es müssen immer größere Mengen konsumiert werden, um den gewünschten Effekt zu erzielen
  • Gedankliche Einengung auf den Konsum, d.h. Aufgabe oder Vernachlässigung von Interessen und Verpflichtungen
  • Fortgesetzter Substanzkonsum trotz eindeutig schädlicher Folgen
Die erwünschte Wirkung der Drogen ist natürlich immer nur vorübergehend. Als zu dieser ohnehin sehr belastenden Situation auch noch immer mehr Stress hinzukommt, entwickelt Elliot eine multiple Persönlichkeitsstörung. Diese schwere und seltene Störung wird diagnostiziert, wenn die folgenden Kriterien vorliegen (ICD-10: 44.81):
  • Zwei oder mehr unterschiedliche Persönlichkeiten innerhalb eines Individuums, von denen zu einem bestimmten Zeitpunkt jeweils eine in Erscheinung tritt
  • Jede Persönlichkeit hat ihr eigenes Gedächtnis, ihre eigenen Vorlieben und Verhaltensweisen und übernimmt zu einer bestimmten Zeit, auch wiederholt, die volle Kontrolle über das Verhalten der Betroffenen
  • Unfähigkeit, wichtige persönliche Informationen zu erinnern
  • Überzeugender zeitlicher Zusammenhang zwischen den Symptomen und belastenden Ereignissen, Problemen oder Bedürfnissen
Elliot erfüllt diese Kriterien. Dass beide Persönlichkeiten gleichzeitig aktiv sind und auch noch so lebhafte Dialoge führen, wie das in Mr. Robot dargestellt wird, ist dagegen eher unrealistisch.  

Dass Elliots multiple Persönlichkeitsstörung ausbricht, hängt maßgeblich mit der Angst und dem Stress zusammen, die er aufgrund seiner sozialen Phobie hat. Auch der Drogenmissbrauch könnte hierzu beigetragen haben. Als er sich immer mehr einsam, verlassen und überfordert fühlt, spaltet er einen Teil seiner Persönlichkeit unbewusst innerlich ab. Dieser Persönlichkeitsanteil erhält die Gestalt seines Vaters, vor dem er zwar große Angst hat, den er aber auch als stark und mächtig erlebt hat. Ohne es zu wissen, erhofft er sich von seinem Vater, dass diese seine Probleme löst und die großen Herausforderungen bewältigt.

Dieser Mechanismus, der zwar hoch pathologisch ist, in sich aber dennoch eine gewisse Logik hat, ist ein gutes Beispiel dafür, dass psychiatrische Symptome, so eigenartig sie auch wirken mögen, sehr häufig auch eine bestimmte Funktion erfüllen. Man nennt dies Krankheitsgewinn. Nur ist es im echten Leben meist so, dass der psychische und/oder soziale Schaden, der für die betroffene Person dadurch entsteht, schnell den Nutzen überwiegt.
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True Detective: Ani



Starke weibliche Hauptrollen sind in Mainstreamfilmen und -serien rar gesät. Antigone „Ani“ Bezzerides aus der zweiten Staffel von True Detective bildet hier eine rühmliche Ausnahme.

Ebenso wie Ray, Frank und Paul, scheint auch Ani auf der Flucht vor einer dunklen Vergangenheit zu sein (passend dazu: Der Titelsong never-mind des großen Leonard Cohen). Allerdings hat Ani, im Gegensatz zu ihren männlichen Mit- und Gegenspielern, nicht selbst etwas Schreckliches getan, sondern flieht vor der Erinnerung an etwas, das ihr angetan wurde.
Dabei können wir bei Ani eine Reihe typischer psychischer Abwehrmechanismen erkennen:
  • Verdrängung: Als Verdrängung wird das (vollständige oder teilweise) Vergessen des Erlebten bezeichnet. Ani scheint sich zwar zu erinnern, dass sie als Kind in der Kommune ihres Vaters sexuell missbraucht worden ist, die Details der Erinnerung scheinen aber zunächst verdrängt zu sein.
  • Reaktionsbildung: In der Missbrauchssituation hat sich Ani wehrlos und schwach erlebt. Als Erwachsene arbeitet sie hart daran, sich immer genau gegenteilig zu fühlen. Das nennt die Psychologie Reaktionsbildung. Sie trainiert hart, trägt immer Messer bei sich, ist eher aggressiv als ängstlich. Auch ihre Berufswahl (Polizistin) lässt den Wunsch nach Stärke und Selbstsicherheit erkennen. Über ihre sexuellen Vorlieben erfahren wir nichts genaues, es wird aber in der ersten Folge angedeutet, dass sie auch hier in der Lage ist, ihren Sexualpartner ziemlich einzuschüchtern.
  • Projektion: Wir wissen nicht genau, inwieweit Anis Sorge um ihre in der Erotikbranche tätige Schwester berechtigt ist. Sollte es so sein, wie ihre Schwester behauptet, dass sie nämlich selbstbestimmt nur das tut, was sie möchte, könnte Anis Sorge um sie zum Teil eine Projektion sein. Das bedeutet, Ani überträgt ihr eigenes Gefühl, Opfer von sexueller Gewalt geworden zu sein, auf ihre Schwester und kann dann versuchen, diese zu beschützen, nun da sie eine toughe Polizistin ist, während sie sich selbst als kleines Mädchen nicht schützen konnte.
  • Sensation Seeking: So nennt man Verhaltensweisen, die zum Ziel haben, ständig starke äußere Reize zu erzeugen um dadurch die Situation zu vermeiden, dass sich die Aufmerksamkeit nach innen und damit möglichen schmerzhaften Gefühlen oder Erinnerungen zuwendet. In Anis Fall sorgt sie durch Trinken, Rauchen, exzessives Arbeiten und Sex dafür, möglichst nicht zu Ruhe zu kommen.
Häufig lassen sich solche intensiven Abwehrkonstellationen nicht ewig aufrechterhalten. Auch Ani wird im Verlauf der Serie mit ihrer verdrängten Vergangenheit konfrontiert. Undercover als Prostituierte schleicht sie sich auf eine geheime Sexorgie. Durch die Frauen, die sich dort scheinbar willenlos den gierigen Männern unterwerfen, wird sie unmittelbar an ihr Trauma erinnert. Zudem steht sie unter Drogen und schwebt in der ständigen Gefahr enttarnt zu werden. Schließlich wird sie noch von einem Mann direkt angegriffen. In dieser Hochstresssituation bricht die verdrängte Erinnerung an ihr Trauma hervor. Ani erinnert sich plötzlich im Detail an das damals Erlebte. Die Erinnerung kommt in Form eines sogenannten Flashbacks, d.h. Ani sieht die Bilder von damals vor ihrem inneren Auge und empfindet die dazugehörigen Gefühle in der Gegenwart noch einmal. Dies geht soweit, dass sie den Mann, der sie angreift, kurzzeitig für den Täter von damals hält. Doch diesmal ist sie vorbereitet…
Die Psychopathologie spricht hier von illusionärer Verkennung: Die Fehlwahrnehmung eines real vorhandenen Sinneseindrucks. Ani sieht tatsächlich einen Mann, nämlich den Sicherheitsmann auf der Sexparty, verkennt ihn aber als den Mann, der sie vor vielen Jahren missbraucht hat. Dadurch unterscheidet sich eine illusionäre Verkennung von einer Halluzination, bei der kein realer Reiz (Mann) vorhanden ist, der Eindruck (Täter) damit vollständig eingebildet wird.
Von allen Protagonisten der zweiten Staffeln von True Detective erwartet Ani das am wenigsten tragische Ende. Sie ist die einzige, die es schaffen könnte, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg ist, dass sie es schafft, sich Ray anzuvertrauen und über ihr Trauma zu sprechen. Vor allem auch über die, in einem solchen Falle nicht seltenen, Schuldgefühle. Dadurch, dass sie sich Ray öffnet, gibt sie ihm die Möglichkeit, ihr zu sagen, dass sie keine Schuld trägt.
Somit könnte ihre Wunde mit der Zeit heilen.
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