Taras Welten: Tara

Im Mittelpunkt von Taras Welten (United States of Tara) steht die Multiple Persönlichkeitsstörung der Protagonistin Tara. Diese seltene psychische Störung wird nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (IDC-10: F44.81) durch die folgenden Kriterien beschrieben:
  • Zwei oder mehr unterschiedliche Persönlichkeiten innerhalb eines Individuums, von denen zu einem bestimmten Zeitpunkt jeweils eine in Erscheinung tritt
  • Jede Persönlichkeit hat ihr eigenes Gedächtnis, ihre eigenen Vorlieben und Verhaltensweisen und übernimmt zu einer bestimmten Zeit, auch wiederholt, die volle Kontrolle über das Verhalten der Betroffenen
  • Amnesien (Unfähigkeit, wichtige Informationen zu erinnern)
  • Zusammenhang zwischen den Symptomen und belastenden Ereignissen, Problemen oder Bedürfnissen
Zu Beginn der Serie stellen sich Taras unterschiedliche Persönlichkeiten als eine lebhafte Truppe illustrer Gestalten dar, die vor allem für Abwechslung und allerhand lustig-peinliche Zwischenfälle im Leben von Tara und ihrer Familie sorgen.
Wie viele psychopathologische Symptome, so ist auch Taras Multiple Persönlichkeitsstörung nicht einfach nur krank, sondern erfüllt wichtige Funktionen. So schützen die Amnesien, die mit der Persönlichkeitsspaltung einhergehen, Tara vor traumatischen Erinnerungen und der Wechsel zwischen verschiedenen Persönlichkeiten erlaubt ihr, unterschiedlichste Alltagsanforderungen zu erfüllen. Diese unmittelbar aus der Symptomatik resultierenden Erleichterungen nennt man primärer Krankheitsgewinn. Darüber hinaus hat Tara auch noch einen erheblichen sekundären (d.h. über die Reaktion ihres Umfelds vermittelten) Krankheitsgewinn: Sie kann sich durch den Wechsel ihrer Persönlichkeit unangenehmen Situationen entziehen und sexuelle, aggressive und infantile Impulse ausleben, ohne die Verantwortung dafür übernehmen zu müssen.
Für Taras jugendliche Kinder, die beide ebenfalls darum ringen, ihre wahre Identität und ihren Platz in der Welt zu finden, ist es besonders schwer, dass ihre Mutter Fragen von Ambivalenz, Verwirrung, Scham und Verantwortung „einfach“ durch Persönlichkeitsspaltung aus dem Weg gehen kann, während sie selbst all das ständig aushalten müssen.
Im Verlauf der Handlung jedoch nimmt Taras Leidensdruck zu, weil die Persönlichkeitsstörung, die sie wohl lange Jahre vor zu großen Belastungen geschützt hat, zunehmend selbst zur Belastung wird.
Durch die Aufspaltung von Bewusstsein und Verantwortung zwischen den Alter-Egos kann Taras Gesamtpersönlichkeit nicht reifen und sich weiterentwickeln und sie ist zunehmend weniger in der Lage, sich an Veränderungen, z.B. die Entwicklung ihrer Kinder, funktional anzupassen.
Wenngleich Taras multiple Persönlichkeitsstörung zugunsten der Comedy etwas plakativ und vereinfacht dargestellt wird, so veranschaulicht Taras Welten doch gut die charakteristische Entwicklung psychopathologischer Symptome, die häufig als notwendige Bewältigungsmechanismen für ansonsten unaushaltbare innere und/äußere Situationen beginnen und erst mit der Zeit immer mehr Einschränkungen und Leidensdruck verursachen. Zu diesem Zeitpunkt wird dann oftmals eine Psychotherapie notwendig, die auch Tara aufsuchen wird…


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Sherlock: Sherlock Holmes

Ein eigenartiger Geselle ist dieser moderne Sherlock Holmes aus der BBC-Serie Sherlock. Kriminologisches Genie mit scheinbar perfektem Gedächtnis und grenzenlosem Selbstbewusstsein und doch überfordert und hilflos angesichts alltäglichster zwischenmenschlicher Interaktionen.
Wie können perfekte Logik und soziale Inkompetenz so nahe beieinander liegen?
Die Antwort: Sherlock Holmes hat offenbar ein Asperger-Syndrom. Diese angeborene Entwicklungsstörung aus dem Autismusspektrum wird nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F84.5) durch die folgenden Kriterien beschrieben:
  • Qualitative Abweichungen der wechselseitigen sozialen Interaktionen
  • Eingeschränktes, stereotypes Repertoire von Interessen und Aktivitäten
  • Keine allgemeine Entwicklungsverzögerung
  • Kein Entwicklungsrückstand der Sprache
Die qualitativen Abweichungen in der sozialen Interaktion zeigen sich in Sherlocks mangelnder Empathiefähigkeit, seinem Desinteresse an den Meinungen und Gefühlen anderer und seiner Verweigerung gegenüber sozialen Normen.
Sein Repertoire an Interessen und Aktivitäten ist einseitig und beschränkt auf Fakten- und Fachwissen, aus dem wissenschaftlichen, vor allem kriminologischen Bereich.
Im Vergleich zu anderen Störungen aus dem Autismus-Spektrum zeichnet sich das Asperger-Syndrom dadurch aus, dass intellektuelle und sprachliche Fähigkeiten nicht beeinträchtigt sind. In einigen Fällen, zu denen Sherlock zweifelsfrei gehört, kann sogar eine intellektuelle und sprachliche Hochbegabung vorliegen.
Sherlocks Selbstdiagnose als hochfunktionaler Soziopath ist hingegen Unsinn. Soziopath ist eine veraltete und stark stigmatisierende Bezeichnung für Menschen mit dissozialer Persönlichkeitsstörung (wie z. B. Der Joker aus The Dark Knight oder Frank Underwood aus House of Cards), die bei Sherlock nicht vorliegt.
Typisch für das Asperger-Syndrom ist, neben den genannten Diagnosekriterien, eine Tendenz zu mechanistischem Denken und eine Vorliebe für rationale, wissenschaftliche und faktenbasierte Erklärungen.
Das an strenger Logik, mathematischer Wahrscheinlichkeit und naturwissenschaftlicher Expertise ausgerichtete Schlussfolgern macht Sherlock als Ermittler so herausragend treffsicher. Im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen (inklusive der Londoner Polizeibeamten) unterlaufen ihm kaum logische Fehlschlüsse, sogenannte Denkfehler.
Ein häufiger, typisch menschlicher Denkfehler ist z. B. der Halo-Effekt. Dabei schließt man unbewusst von einer markanten Eigenschaft einer Person auf weitere Eigenschaften, ohne diese tatsächlich zu kennen. So würden z. B. die meisten Menschen einer unsympathischen oder aggressiven Person eher ein Verbrechen zutrauen, als einer freundlichen oder schüchternen Person. Sherlock jedoch lässt sich davon nicht blenden und entlarvt so auch Täter, die von der Polizei gar nicht erst in Betracht gezogen werden.
Einen weiteren häufigen Denkfehler beschreibt das sogenannte Minimalgruppen-Paradigma. Es beschreibt die Tendenz, Personen die einem selbst als ähnlich oder der eigenen sozialen Gruppe zugehörig empfunden werden, positiver wahrzunehmen, zu bevorzugen und ihre Leistungen besser zu bewerten. Sherlock, der sich auch davon selten beeinflussen lässt, bleibt dagegen offen und aufmerksam auch für Verdächtiges in seinem engsten sozialen Umfeld – oft zu dessen Leidwesen und Verärgerung.
So ist Sherlocks wichtigste Waffe im Kampf gegen das Verbrechen sein logisch-schlussfolgernder Verstand und (im Gegensatz zu vielen anderen fiktionalen Super-Ermittlern) gerade nicht seine bloße Intuition.
Allerdings stößt auch Sherlocks Methodik hin und wieder an ihre Grenzen, nämlich immer dann, wenn sich Menschen – und auch das kommt vor – entgegen jeder Logik und statistischen Wahrscheinlichkeit verhalten. Dann ist selbst der hochintelligente Sherlock auf die Hilfe seines Freundes Dr. Watson angewiesen, der mit seinem intuitiven Verständnis für das Irrationale und Unvorhersehbare im Menschen, immer wieder den entscheidenden Beitrag zum Erfolg der Ermittlungen leistet. 


Mehr zu Sherlock, Watson, Moriarty und Co. im Charakterneurosen-Podcast

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Bates Motel & Psycho: Norman

SPOILERWARNUNG: Wer Psycho oder die zweite Staffel von Bates Motel noch nicht gesehen hat, sollte hier nicht weiterlesen. Außerdem empfiehlt es sich in diesem Fall, zuerst den Film und dann die serielle Vorgeschichte anzusehen.

Bates Motel zeigt die in unsere Gegenwart verlegte Vorgeschichte zu Alfred Hitchcocks Psycho und damit die Entwicklung des jungen Norman Bates zu einem der bekanntesten Psychokiller der Filmgeschichte.

Wie wir am Ende von Psycho erfahren, leidet Norman unter einer Multiplen Persönlichkeitsstörung, im allgemeinen Sprachgebrauch auch Persönlichkeitsspaltung oder gespaltene Persönlichkeit. Diese seltene Störung wird in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (IDC-10: F44.81) durch die folgenden Symptome beschrieben:
  • Zwei oder mehr unterschiedliche Persönlichkeiten innerhalb eines Individuums, von denen zu einem bestimmten Zeitpunkt jeweils eine in Erscheinung tritt
  • Jede Persönlichkeit hat ihr eigenes Gedächtnis, ihre eigenen Vorlieben und Verhaltensweisen und übernimmt zu einer bestimmten Zeit, auch wiederholt, die volle Kontrolle über das Verhalten der Betroffenen
  • Amnesien (Unfähigkeit, wichtige persönliche Informationen zu erinnern)
  • Zusammenhang zwischen den Symptomen und belastenden Ereignissen, Problemen oder Bedürfnissen
Die multiple Persönlichkeitsstörung gehört zu den sogenannten Dissoziativen Störungen, wobei Dissoziation sinngemäß mit Abspaltung übersetzt werden kann und meint, dass eine Funktion, welche normalerweise in die psychische Gesamtstruktur integriert ist (z.B. Erinnerung, Wahrnehmung, Bewegung), sich plötzlich der psychischen Kontrolle entzieht, gleichsam von dieser abgespalten wird. Im Falle der multiplen Persönlichkeitsstörung sind ganze Persönlichkeitsanteile (mit jeweils eigenen psychischen Funktionen) von dieser Abspaltung betroffen.
Normans Persönlichkeitsstörung ist besonders interessant, da der zweite, abgespaltene Persönlichkeitsanteil ganz offensichtlich die Persönlichkeit seiner eigenen Mutter Norma repräsentiert.
In Bates Motel können wir mitverfolgen, wie sich Norman Störung nach und nach manifestiert. Norma Bates, die unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leidet, ist eine extrem kontrollierende und besitzergreifende Mutter, die ihren Sohn mit Schuldgefühlen, Tränen, Wutausbrüchen und Lügen manipuliert, um ihre eigene Angst vor Verlassenwerden und Einsamkeit zu bewältigen.
Zunächst kann sich Norman damit noch ganz gut arrangieren: Als eher kindlicher Junge und vermeintliches Einzelkind genießt er die enge und vertraute Beziehung zu seiner Mutter, lässt sich gerne von ihr verwöhnen und hat sichtlich Gefallen daran, auch für seine Mutter da zu sein, was ihm ein Gefühl von Stärke und Kompetenz verschafft, das er als schüchterner und eher schwächlich wirkender Junge unter Gleichaltrigen zunächst kaum findet. Häufig nimmt Norman gegenüber seiner emotional instabilen Mutter eher die Rolle eines Partners oder sogar eines Elternteils ein, fühlt sich für sie verantwortlich und stellt ihr Wohl über sein eigenes. Eine solche Umkehr der Eltern-Kind-Beziehung nennt man Parentifizierung. Dass die emotionale und körperliche Beziehung der beiden dabei näher und tabuloser ist, als es für siebzehnjährige Jungen und ihre Mütter üblich ist, empfindet er noch nicht als beunruhigend, wahrscheinlich ist es ihm zunächst gar nicht bewusst, hat er doch keine Vergleichsmöglichkeiten durch Geschwister oder Freunde (Normans späteres – und für ihn extrem verstörendes – Begehren seiner Lehrerin ist ein Hinweis auf seine Verwirrung hinsichtlich natürlicher Generationsgrenzen).
Nach und nach hält jedoch auch bei dem siebzehnjährigen Norman die Pubertät Einzug. Er beginnt sich für Mädchen zu interessieren und stellt erstaunt fest, dass diese auch Gefallen an ihm finden. Doch dies bleibt auch Norma nicht verborgen, die, von Verlustängsten getrieben, ihren Sohn subtil manipuliert und ihm Schuldgefühle einimpft, sobald er liebevolle Gefühle für andere Frauen entwickelt.
So wird Normans Persönlichkeitsentwicklung in der Pubertät von zwei extrem Starken inneren Kräften geprägt: Dem Abhängigkeitsgefühl gegenüber seiner Mutter, die jahrelang seine einzige Vertraute war und die er als so kränkbar und verletzlich empfindet, und dem biopsychologisch angelegten Bedürfnis nach Eigenständigkeit, Individualität, Freiheit und Sexualität.

In einer gesünderen psychischen Entwicklung hätte Norman sich von seiner Mutter zunächst stärker ablösen und dafür in Kauf nehmen müssen, dass diese sich davon auch einmal gekränkt und verletzt fühlt. Hierzu hätte allerdings Norma ihre eigenen Kränkungen und Ängste besser selbst bewältigen können müssen, um ihrem Sohn nicht das Gefühl zu vermitteln, allein für ihr Wohl und Wehe verantwortlich zu sein. Wäre die pubertäre Ablösung gelungen, hätte Norman ohne Schuldgefühle eine eigene Identität entwickeln können und wäre dennoch frei gewesen, einige Überzeugungen und Werte seiner Mutter als seine eigenen zu übernehmen. Die Beziehung zu ihre wäre zwar weniger eng, dafür aber freier von Schuldgefühlen und Vereinnahmungsängsten und damit für Norman weniger konflikthaft geworden.

All dies ist aber nicht der Fall und so bleibt Norman, der weder seine Mutter enttäuschen, noch all seine individuellen Triebe dauerhaft unterdrücken kann, nur die Möglichkeit, den Zustand der ständigen inneren Zerrissenheit durch Persönlichkeitsspaltung aufzulösen. Als Norman lebt er das Leben eines relativ normalen Teenagers, der auch schonmal seine Mutter belügt um sich mit einem Mädchen zum Schäferstündchen im Baumhaus zu treffen. Der zweite Persönlichkeitsanteil übernimmt ungefiltert und unhinterfragt die (vermeintlichen) Ängste und Motive seiner Mutter und geht buchstäblich über Leichen, um die symbiotisch-enge Mutter-Sohn-Beziehung gegen die Außenwelt (und vor allem deren sexuelle Reize) zu verteidigen.
Ganz nach Normans Feststellung in Psycho: „Der beste Freund eines Mannes ist seine Mutter.“
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Bates Motel: Norma oder die Wahrheit über Borderline



Endlich eine überzeugende Darstellung der Borderline-Persönlichkeitsstörung in einer Fernsehserie! Der Störung, die fast jeder zu kennen glaubt und über die es doch so viele falsche Klischees, gefährliches Halbwissen und stigmatisierende Vorurteile gibt, wie über kaum eine andere.

Zeit, mit einigen dieser falschen Mythen aufzuräumen! Dabei hilft uns die beeindruckende (wenn auch im Dienste eines spektakulären Plots dramatisierte) Darstellung einer „Borderlinerin“ in Bates Motel. Die Rede ist natürlich von Norma Bates, der Mutter des späteren Psycho-Killers Norman Bates.
Die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus, wie die Störung offiziell in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F60.31) heißt, zeigt sich bei Norma anhand der folgenden, dauerhaft und situationsübergreifend vorliegenden Symptome:
  • Deutliche Tendenz unerwartet und ohne Berücksichtigung der Konsequenzen zu handeln (Impulsivität)
  • Deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten
  • Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle explosiven Verhaltens
  • Unbeständige und unberechenbare Stimmung
  • Störungen und Unsicherheit bezüglich Selbstbild und/oder Zielen und/oder Vorlieben
  • Neigung, sich in intensive aber instabile Beziehungen einzulassen, oft mit der Folge von emotionalen Krisen
  • Angst davor, Verlassen zu werden und übertriebene Bemühungen, dies zu vermeiden
  • Anhaltende Gefühle von Leere und/oder Einsamkeit
Norma ist überaus impulsiv und beschwört durch ihre Impulsivität immer wieder Konflikte herauf. In diesen kämpft sie ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, so dass es im Affekt auch schonmal zum Mord kommt – immerhin geht es ja auch um das Prequel zu Psycho!
Ihre Stimmung kann von einer Sekunde auf die andere, anhand einer einzelnen Äußerung oder Handlung ihres Gegenübers, radikal umschlagen, wobei das Spektrum von überschwänglicher Zuneigung über eiskalte Ablehnung bis hin zum Tobsuchtsanfall reicht.
Auch Normas Lebensplanung wirkt impulsiv und von tiefgreifender Unsicherheit bezüglich ihres Selbstbilds und ihrer Lebensziele geprägt. So geht sie immer wieder Beziehungen zu Männern ein, mit denen sie schon bald nicht mehr glücklich ist. Bei Problemen stellt sie schnell alles infrage und versucht ihr ganzes Leben radikal umzukrempeln indem sie irgendwo anders ein neues Leben beginnt.
Besonders auffallend – und für die Entwicklung ihres Sohnes Norman prägend – ist Normas panische Angst, von ihm verlassen zu werden. Sie scheint ihren Sohn weniger als eigenständige Person, sondern vielmehr als Teil ihrer selbst zu betrachten, ohne den sie sich leer und unerträglich einsam fühlen würde, was Norma unbewusst durch den Namen, den sie ihrem Sohn gegeben hat, zum Ausdruck bringt. Psychologen sprechen in einem solchen Fall von einem Selbstobjekt: Der andere wird nicht um seiner selbst willen begehrt, sondern nur zur Sicherung des eigenen Selbstwertgefühls. Beim leisesten Anzeichen für eine mögliche Verselbstständigung ihres Sohnes, reagiert Norma extrem wütend, verzweifelt oder gekränkt und setzt alles daran, Norman durch Schuldgefühle und Angst an sich zu binden.
All diese Erlebens- und Verhaltensweisen sind typisch für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Jedoch sind die einzelnen Verhaltensweisen für die Diagnosestellung nicht hinreichend. Erst das zeitstabile und situationsübergreifende Vorliegen des charakteristischen Symptommusters und ein dadurch erheblich beeinträchtigtes persönliches und soziales Funktionsniveau rechtfertigen die Diagnose.
Kommen wir nun zu einigen der vielen Mythen über die Borderline-Persönlichkeitsstörung:
Borderliner sind Grenzgänger: Das mag in manchen Fällen so sein, die Bezeichnung Borderline-Störung impliziert jedoch nicht, dass Betroffene sich auf oder entlang irgendwelcher Grenzen (welcher denn auch?) bewegen. Der Begriff entstand vor dem Hintergrund der historischen Einteilung psychischer Erkrankungen in Neurosen (leichtere psychische Störungen aufgrund seelischer Konflikte, mit erhaltener Realitätswahrnehmung) und Psychosen (schwere psychische Störungen aufgrund organischer Ursachen, mit gestörter Realitätswahrnehmung). Da die frühen Beschreibungen der Borderline-Störung keiner der beiden Kategorien eindeutig zugeordnet werden konnten, wurden sie als „auf der Grenzlinie“ zwischen Neurose und Psychose liegend angesehen. In der modernen, viel differenzierten Psychopathologie spielen die Begriffe Neurose und Psychose eine weit weniger zentrale Rolle.
Fazit: Borderline ist ein historischer Begriff ohne inhaltlichen Bezug zum heutigen Störungsverständnis.
Borderliner verletzten sich selbst: Tatsächlich sind wiederholte Drohungen oder Handlungen mit Selbstverletzung (ICD-10) ein mögliches Symptom der Borderline-Persönlichkeitsstörung. In der klinischen Praxis lässt sich selbstverletzendes Verhalten, meist in Form von Ritzen, z.B. mit Rasierklingen, bei vielen Borderline-Patienten beobachten. Häufig dient die Selbstverletzung dem Abbau innerer Spannungszustände oder der Selbstbestrafung bei Scham- und Schuldgefühlen. Dennoch ist selbstverletzendes Verhalten kein notwendiges Kriterium, es gibt durchaus Borderline-Patienten, die sich nicht ritzen (zum Beispiel Norma Bates). Und vor allem ist selbstverletzendes Verhalten kein hinreichendes Kriterium: Ritzen oder andere selbstverletzende Verhaltensweisen können ebenso Symptome anderer psychischer Störungen (zum Beispiel Depressionen) sein oder auch bei an sich völlig gesunden Menschen als vorübergehendes Phänomen in Lebenskrisen, Erregungszuständen oder während der Pubertät auftreten.
Fazit: Borderline ist nicht gleich Ritzen und Ritzen ist nicht gleich Borderline.
Borderliner manipulieren und spalten: Wenn wir Angst haben, geliebte Personen für immer zu verlieren, ergreifen wir alle zur Verfügung stehenden Mittel, um dies zu verhindern. Ein drohendes oder befürchtetes Verlassenwerden kann bestehende Zweifel an der eigenen Liebenswürdigkeit und existenzielle Ängste vor Einsamkeit und Endlichkeit wachrufen. Wenn der innere oder äußere Krieg um geliebt oder verlassen werden tobt, kommen mitunter auch manipulative Waffen wie Schuldvorwürfe, Drohungen und emotionale Erpressung zum Einsatz. Die Spaltung in Gut und Böse, Liebe und Hass, Leben und Tod kann in solchen Ausnahmesituationen helfen, ein Mindestmaß an Orientierung und Sicherheit zu erhalten.
Fazit: Spaltung und Manipulation sind gängige psycho-soziale Bewältigungsstrategien bei existenzieller Verlassenheitsangst, allerdings geraten Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung tendenziell schneller und häufiger in diesen Zustand (siehe Norma Bates).
Eine Borderline-Störung ist die Folge eines Kindheitstraumas: Wie fast alle psychischen Störungen lässt sich auch die Borderline-Persönlichkeitsstörung in den meisten Fällen nicht auf eine einzelne Ursache zurückführen. Dennoch zeigt die klinische Beobachtung, dass sich in den Biographien von Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen überzufällig häufig Gewalt- und Missbrauchserfahrungen finden lassen (wie auch bei Norma Bates), was nahe legt, dass diese einen Einfluss auf die Krankheitsentstehung haben. Allerdings gibt es auch Borderline-Persönlichkeitsstörungen ohne nachweisbares schweres Trauma in der Vorgeschichte, ebenso wie es viele Menschen mit Gewalt- und Missbrauchserfahrung gibt, die keine Borderline-Persönlichkeitsstörung entwickeln. Entscheidender als ein schweres Kindheitstrauma scheinen Bindungsstörungen zu sein, das heißt Störungen und negative Muster in der Eltern-Kind-Interaktion, wie emotionale Vernachlässigung, Entwertung oder inkonsistentes Elternverhalten zwischen Vereinnahmung und Zurückweisung. Allerdings treten schwere Traumatisierungen und Bindungsstörungen gehäuft in denselben Familiensystemen auf.
Fazit: Traumata stellen einen Risikofaktor für viele psychische Störungen dar, aber Borderline ist nicht gleich Trauma.
Die Borderline-Störung ist nicht therapierbar: Ob Persönlichkeitsstörungen generell vollständig heilbar sind, oder nicht, ist umstritten. Doch selbst wenn die zugrundeliegenden Erlebensweisen (wie im Falle der Borderline-Persönlichkeitsstörung die Tendenz zu Impulsivität, emotionaler Instabilität und Angst vor dem Verlassenwerden) nicht vollständig wegtherapiert werden können, bedeutet das nicht, dass Psychotherapie nicht indiziert, sinnvoll und aussichtsreich wäre. Die Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung setzt an der Umsetzung des Erlebens in Verhalten an: Die eigenen Gefühle sollen früher und differenzierter wahrgenommen und analysiert werden können. Dadurch lässt sich das eigene Verhalten besser regulieren und zwischenmenschliche Interaktionen können befriedigender gestaltet werden. Langfristig werden dadurch positivere Beziehungserfahrungen gemacht und Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen und das Vertrauen in andere können nachreifen. Allerdings fällt es Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen aufgrund ihrer früheren enttäuschenden Beziehungserfahrungen oft nicht leicht, zu Therapeuten Vertrauen zu fassen. Norma Bates gelingt es gar nicht.
Fazit: Es gibt gute und wissenschaftlich fundierte Psychotherapieverfahren zur erfolgreichen Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen, die allerdings von Therapeut und Patient viel Geduld und Offenheit für neue Erfahrungen erfordern.
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Orange Is the New Black: Crazy Eyes



Ist der Frauenknast in Orange Is the New Black ein Spiegel der (amerikanischen) Gesellschaft? Keine Ahnung! In jedem Fall jedoch ist er ein Sammelbecken für vielerlei Konflikte, Macken und Neuröschen. 

Da ist zum Beispiel Crazy Eyes, die eigentlich Suzanne heißt, sich aber durch ihr auffällig eigenartiges, so penetrant wie ungeschicktes Kontaktverhalten ihren unrühmlichen Spitznamen eingehandelt hat. 
Ob Crazy Eyes wirklich crazy ist, ist schwer zu sagen. Einige ihrer Verhaltensweisen sprechen dafür, dass sie möglicherweise ein Asperger-Syndrom, eine Form des Autismus, haben könnte. Diese wird in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F84.5) durch vier Kriterien definiert:
  • Qualitative Abweichungen der wechselseitigen sozialen Interaktionen
  • Eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten
  • Keine allgemeine Entwicklungsverzögerung
  • Kein Entwicklungsrückstand der Sprache
Als qualitative Abweichung in der sozialen Interaktion könnten Suzannes Schwierigkeiten gelten, sich in andere hineinzuversetzen und deren Motive und Gefühle zu verstehen. Darum braucht sie so lange, um zu verstehen, dass Piper sie nicht liebt und wird in Staffel 2 ein so leichtes Opfer für Vees manipulative Intrigen. 
Ihre eigenartige Begeisterung für das Putzen könnte man als Spezialinteresse, und somit ebenfalls als Hinweis auf ein Asperger-Syndrom, sehen. 
Die beiden Ausschlusskriterien, welche das Asperger-Syndrom vor allem gegenüber anderen Störungen aus dem Autismus-Spektrum abgrenzen, liegen bei Suzanne nicht vor, denn trotz ihrer Ungeschicktheit im zwischenmenschlichen Umgang, die sie manchmal beschränkt wirken lässt, ist sie intellektuell und sprachlich eigentlich gut, vielleicht sogar sehr gut, begabt. 
Ob Suzanne ein Asperger-Syndrom hat, ließe sich mit größerer Sicherheit sagen, wenn wir wüssten, ob ihr soziales Interaktionsverhalten schon in der frühen Kindheit gestört war, oder nicht. Bis zum Ende der aktuellen zweiten Staffel bleibt jedoch offen, ob Suzanne durch eine psychische Störung zur Außenseiterin wurde, oder ob das Außenseiterdasein über die Jahre zu ihrem ungeschickt-verbissenen Beziehungsverhalten geführt hat. 
Ein klassisches – in der Psychiatrie nicht seltenes – Henne-Ei-Dilemma!
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Grey’s Anatomy: Meredith

Meredith Grey aus Grey’s Anatomy nennt sich selbst die „dunkle und verdrehte“ Meredith. Dabei sind ihre Ängste, inneren Konflikte und Schwierigkeiten mit Beziehungen gar nicht so außergewöhnlich, wie sie scheinbar denkt. 

Wie bei vielen Menschen ist Merediths späteres Leben und die Gestaltung ihrer Beziehungen von den Erfahrungen geprägt, die sie in den ersten Lebensjahren mit ihren Eltern gemacht hat. Diese waren nicht einfach: Ihre Mutter war eine überaus ehrgeizige, aber auch kalte Frau. Ihr Beruf als Chirurgin, in dem sie es dann auch zu großem Ruhm brachte, stand für sie an erster Stelle, erst weit dahinter kamen Mann und Tochter. Ihre eigenen strengen Leistungsansprüche übertrug sie auf Meredith, die kaum je etwas gut genug machen konnte. Merediths spätere Berufswahl und ihr extremer Ehrgeiz, für den sie immer wieder an ethische Grenzen geht, sind Folgen ihrer durch die Mutter vermittelten latenten Selbstzweifel. Merediths Vater verließ schließlich seine unnahbare Ehefrau und ließ damit auch die fünfjährige Tochter mit ihr allein. So lernte Meredith aus den Erfahrungen mit ihren Eltern zwei Dinge über nahe Beziehungen: Wer von der Liebe anderer abhängig ist, ist verletzbar, sei es durch Erniedrigung oder durch Verlassenwerden. 
Jedoch gibt Meredith den Wunsch nach einer Halt und Vertrauen gebenden Beziehung trotz dieser Erfahrungen nicht ganz auf. Das spricht dafür, dass die ersten Jahre mit ihrem Vater gut waren, so dass sie ein Gefühl davon vermittelt bekommen hat, wie wohltuend Liebe und Geborgenheit sein können. Auch deshalb, nimmt sie ihm sein Fortgehen lange Jahre so übel. 
Das frühe Verlassenwerden erklärt auch, warum Meredith auf die zahlreichen späteren Verlusterfahrungen mehrfach mit heftigen und lang anhaltenden Ängsten reagiert, da zusätzlich zu der aktuellen Verzweiflung auch noch die existenzielle Angst des verlassenen Kindes von neuem aktualisiert wird. 
Aufgrund ihrer Kindheitserfahrungen bildet Meredith einen unsicher-ambivalente Bindungsstil aus, das heißt, sie wünscht sich insgeheim nichts sehnlicher, als eine Beziehung, die so sicher und wohltuend ist, wie die frühen Jahre in den Armen des zugewandten und schützenden Vaters. Gleichzeitig hat sie vor nichts mehr Angst, als davor, sich auf eine Beziehung einzulassen, in der sie wieder abhängig und damit verletzbar würde. 
Im Erwachsenenalter äußert sich die unsicher-ambivalente Bindung in einem unbewussten inneren Nähe-Distanz-Konflikt, der Meredith immer wieder dazu bringt, sich auf Beziehungen einzulassen, diese aber dann, aus Angst vor zu viel Nähe, aktiv zu beenden oder passiv zu boykottieren, bis der Partner sie beendet. 
So bleibt auch die große Liebe zu Derek lange Zeit eine On-Off-Beziehung und Meredith weist seine Wünsche und Forderungen nach mehr Verbindlichkeit immer wieder zurück. Sie muss sich zunächst versichern, dass Derek sich, wenn sie ihn nahe an sich heran lässt, nicht ebenso verhalten wird, wie sie es von ihren Eltern gewohnt ist. Diesen Prozess – unbewusst von Eigenschaften und Verhaltensweisen früherer Bezugspersonen auf die von aktuellen zu schließen – nennt man Übertragung.

Im Laufe der Zeit lernen jedoch beide, Kompromisse einzugehen: Derek lernt, Merediths Beziehungsängste zu akzeptieren und schraubt seine eigenen Vorstellungen von Ehe und Romantik zurück, um sie damit nicht zu überfordern. Meredith lernt, Derek zunehmend als eigenständige Person zu sehen und sich in der Beziehung zu ihm weniger von ihren alten Ängsten leiten zu lassen.
So entwickeln sie ihre ganz eigenen Strategien, wie die Post-It-Hochzeit oder die stillen Momente im Aufzug, und machen ihre Beziehung, mit viel Geduld, Mut und Flexibilität, zu etwas Einzigartigem.

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Under the Dome: Big Jim

James „Big Jim“ Rennie aus Under The Dome ist das Paradebeispiel eines Menschen mit Narzisstischer Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.80). Von den überdauernden Erlebens- und Verhaltensweisen, die dieser Störung zugeordnet werden, erfüllt er nicht nur die für die Diagnosestellung nötigen fünf Kriterien, sondern gleich alle Neune.

  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit
  • Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe
  • Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen 
  • Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten
Allerdings weiß man bei Under The Dome ja nie so genau, welche der Überzeugungen, Visionen und Vorahnungen, die Psychologen in unserer Welt als Realitätsverzerrung oder sogar als Wahn klassifizieren würden, sich unter der Kuppel letztlich als wahr erweisen.
Vielleicht ist Big Jim ja doch der Auserwählte…

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Tatort Münster: Prof. Boerne

Die jüngste Folge des Münsteraner Tatorts war die erfolgreichste Tatortepisode seit über zwanzig Jahren. Allgemein erzielen Hauptkommisar Frank Thiel und Prof. Dr. Karl-Friedrich Boerne regelmäßig Bestquoten. 

Dass die Münsteraner Ermittler so beliebt sind, liegt sicher nicht an der Spannung oder dem Einfallsreichtum der Mordfälle, sondern es sind Boernes exzentrische Marotten, Thiels fassungslose Gereiztheit und der daraus entstehende Schlagabtausch, die Fernsehdeutschland am Sonntagabend nach Münster locken. 
Prof. Dr. Boernes Eigenheiten lassen sich dabei allesamt im Krankheitsbild der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung wiederfinden, die nach der internationalen Klassifikation psychischer Krankheiten (ICD-10: F60.80) durch mindestens fünf der folgenden Kriterien definiert wird:
  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit
  • Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe
  • Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen
  • Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten
Boernes Herkunft aus einer altehrwürdigen Akademikerdynastie sowie seine spätere Sozialisation im Medizinstudium und einer schlagenden Studentenverbindung dürften ein an Status und Erfolg orientiertes Welt- und Menschenbild begünstigt haben. Vielleicht hat er die Erfahrung gemacht, nicht um seiner selbst willen, sondern nur für Wissen, Leistung und Ehrgeiz respektiert und geliebt zu werden. 
Boernes hypochondrische Ängste spiegeln seinen Egozentrismus auf körperlicher Ebene wider.
Um mit sich selbst zufrieden sein zu können, muss er nicht nur stets der Beste, Klügste und Erste sein, sondern auch die Anderen klein halten, übertrumpfen und ihnen ihre Fehler und Unzulänglichkeiten unter die Nase reiben, um selbst noch großartiger dazustehen. 
Dabei sind seine bevorzugte Opfer die ihm am nächsten stehenden Menschen: Thiel und Alberich. Mit ihnen teilt der Zuschauer die Befremdung, den Ärger, manchmal die schiere Fassungslosigkeit über Boernes Arroganz – und auch die Schadenfreude, wenn sich der Herr Professor mal wieder verrannt hat.
Und dennoch lieben wir – genau wie Thiel und Alberich – insgeheim unseren verrückten Professor Boerne. 
Warum?
Weil er unseren eigenen heimlichen Narzissmus stellvertretend auf der ganz großen Bühne auslebt – und das auch noch im Dienste der Gerechtigkeit!
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Breaking Bad: Jesse



Jesse Pinkman ist der vielleicht komplexeste Charakter in Breaking Bad. Während Walter Whites Entwicklung vom spießigen Highschoollehrer zum Drogenbaron Heisenberg auf einen klar erkennbaren Auslöser, quasi den Nullpunkt, zurückgeht, scheint Jesses Leben bereits zuvor und eher schleichend aus den Fugen geraten zu sein.

Jesse stammt aus guten, fast schon wohlhabend zu nennenden, Verhältnissen. Seine Eltern leben in einem ansehnlichen Vorstadthaus, sind offenbar gebildet und musisch interessiert und scheinen großen Wert auf die Bildung und Ausbildung ihrer Kinder zu legen. Jesse wächst zunächst als Einzelkind auf, sein einziger Bruder Jake ist deutlich jünger als er. Während die Eltern auf Jake große Stücke halten und er offenbar überwiegend in der Lage ist, ihre hohen Anforderungen an Leistung und Auftreten zu erfüllen, wird immer wieder deutlich, dass Jesse in den Augen seiner Eltern eine einzige Enttäuschung darstellt und auch schon in seiner Kindheit dargestellt hat. Wir erfahren von schlechten Schulleistungen und frühen Drogenvergehen.
Die Wurzel der beiderseits enttäuschenden Eltern-Kind-Beziehung liegt aber wahrscheinlich noch früher, nämlich in der Wechselwirkung von Jesses Neigung zu Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität und der strengen, enttäuschten und verurteilenden Reaktion seiner Eltern auf sein Verhalten. 
Jesse erfährt, dass er, so wie er ist – nämlich aktiv, laut, ungestüm und neugierig – nicht richtig ist und nicht der Sohn, den sich seine Eltern gewünscht hätten. Für einen Jungen wie Jesse, sind das sterile, auf Anstand, Disziplin und Ordnung ausgerichtete Leben seiner Eltern und deren nüchterne, rationalistische Beziehungsgestaltung schwer zu ertragen. Vielmehr bräuchte er intensive Zuwendung, Zuspruch und Anerkennung für seine Vitalität und das Interesse seiner Eltern an ihm und seinen Stärken. Da ihm all das fehlt, versucht er es immer wieder einzufordern, wofür ihm allerdings wenig andere Mittel zur Verfügung stehen, als immer wieder durch Krawall und Regelverstöße auf sich aufmerksam zu machen, was natürlich zu der gewohnten elterlichen Reaktion führt. Dass Jesse, bei angemessener Förderung, durchaus zu bemerkenswerten Leistungen in der Lage ist, zeigt die Anekdote über das Holzkästchen welches er unter Anleitung eines wohlwollenden und engagierten Lehrers geschreinert hat. 
Diese negative Wechselwirkung ist, neben Jesses biologischer Disposition, der Grund dafür, dass er ein, bis ins Erwachsenenalter fortbestehendes, Aufmerksamkeitsdefizits- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) entwickelt. In der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) wird dieses Krankheitsbild als Hyperkinetische Störung bezeichnet. In Jesses Fall liegt die Kombination eines ADHS mit delinquentem (regelverletzendem) Verhalten vor, so dass er die Diagnosekriterien einer Hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F90.1) erfüllt.

Die hyperkinetische Störung ist durch drei Kernsymptome definiert, die Jesse alle erfüllt:
1. Unaufmerksamkeit
  • Flüchtigkeitsfehler, Ablenkbarkeit
  • Vergesslichkeit, Verlieren von Gegenständen
  • Schwierigkeiten zuzuhören und Erklärungen zu folgen
  • Geringes Durchhaltevermögen bei als uninteressant erlebten Tätigkeiten
2. Hyperaktivität
  • Zappeln mit Händen und Füßen
  • Insgesamt gesteigerte motorische Aktivität oder Gefühl innerer Unruhe
  • Lautes Verhalten, Schwierigkeiten sich ruhig zu beschäftigen
3. Impulsivität
  • Unterbrechen oder stören anderer
  • Gesteigerter Redebedarf ohne Rücksicht auf soziale Konventionen
  • Ungeduld, Unfähigkeit zum Belohnungsaufschub
Die Störung des Sozialverhaltens kann sich in vielerlei Verhaltensweisen äußern, bei Jesse sind dies vor allem:
  • Hinwegsetzen über Regeln
  • Verweigerung gegenüber Forderungen (von Autoritäten)
  • Unüberlegtes Handeln, das andere ärgert
  • Wutausbrüche
  • Verantwortlichmachen anderer für eigenes Fehlverhalten
  • Lügen um materielle Vorteile zu erhalten oder Verpflichtungen zu umgehen
  • Einsatz von Waffen
  • Zerstörung fremden Eigentums
  • Diebstahl, Einbruch

Wie viele Jugendliche mit einer ähnlichen Symptomatik gerät Jesse mit der Zeit in einen zweiten Teufelskreis: Während er durch sein lebhaftes und getriebenes Verhalten die erwünschte positive Aufmerksamkeit seiner Bezugspersonen nicht bekommt, erlebt er sich bei seinen ersten Drogenerfahrungen auf einmal ruhig, gelassen und sogar konzentrierter als sonst. Jesses Einstiegsdrogen sind, typischerweise, Cannabis und Amphetamine. Cannabis wird von vielen hyperaktiven Jugendlichen als angenehm beruhigend und entspannend empfunden. Amphetamine, zu denen auch das von Jesse und Walt hergestellte Crystal Meth gehört, kann als leistungssteigernd, konzentrationsfördernd und anregend erlebt werden. Das Amphetaminderivat Methylphenidat wird wegen dieser Eigenschaften in der Behandlung von ADHS eingesetzt und ist unter dem Handelsnamen Ritalin berühmt geworden. Jesses Drogenmissbrauch (ICD-10: F19.1) ist somit, zumindest in seiner Entstehungsgeschichte, auch als unbewusster Versuch einer Selbstmedikation zu sehen. 
Während Jesses Lösungsversuche im Bezug auf die Anerkennung und Liebe seiner Eltern höchst dysfunktional sind und ihn von diesen nur umso mehr entfremden, machen ihn die Bereitschaft zu Grenzüberschreitungen und sein Wissen über das Drogenmilieu zum idealen Partner für Walter, der in diesen Dingen zunächst noch unerfahren ist.
Walter, der Meister der Manipulation, erkennt Jesses tiefes Bedürfnis nach Anerkennung und nutzt es aus, indem er genau die Fähigkeiten von Jesse würdigt, die seine Eltern am meisten verurteilt haben. Gleichzeitig hält er Jesse klein, entzieht ihm seine Anerkennung und Zuneigung immer wieder, so dass dieser sich auch weiterhin nicht sicher fühlen kann und dazu angetrieben wird, sich Walters Respekt immer wieder neu zu verdienen. Selbst wenn es seine Würde, sein Gewissen, seine Liebe, vielleicht sogar sein Leben kostet. 

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True Detective: Rust


Der True Detective Rustin „Rust“ Cohle ist ein mürrischer Zeitgenosse. Seit dem Unfalltod seiner kleinen Tochter leidet er unter einer chronischen depressiven Störung, die als Dysthymia bezeichnet wird. Diese zeichnet sich nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F34.1) dadurch aus, dass die Symptomatik zwar weniger stark ausgeprägt ist, als bei einer akuten depressiven Episode (ICD-10: F32), dafür aber über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren anhält. In Rusts Fall äußert sich die depressive Symptomatik außerdem auf die für Männer typische Weise, in Form einer sogenannten male depression:
  • Dysphorie/Gereiztheit
  • Zynismus
  • Aggression/Impulsivität
  • Dissoziales/delinquentes Verhalten
  • Risikoverhalten, Extremsport
  • exzessives Arbeiten („Flucht in die Arbeit“)
  • Alkohol-/Nikotin-/Drogenmissbrauch

Zum Zeitpunkt der beiden Handlungsebenen von True Detective ist Rusts Depression bereits chronifiziert und aus seinem Alkohol-, Nikotin-, Drogen- und Medikamentenmissbrauch hat sich eine Multiple Substanzabhängigkeit entwickelt. Für diese Diagnose müssen nach ICD-10 (F19.2) mindestens drei der folgenden Merkmale vorliegen, und zwar seit mindestens einem Monat:
  • Starkes Verlangen oder Zwang, die Substanz zu konsumieren
  • Verminderte Kontrolle über den Konsum oder erfolglose Versuche, den Substanzkonsum zu verringern oder zu kontrollieren
  • Körperliches Entzugssyndrom
  • Toleranzentwicklung: Bei fortgesetztem Konsum derselben Menge treten deutlich geringere Effekte auf
  • Aufgabe oder Vernachlässigung anderer Interessen. Hoher Zeitaufwand für die Beschaffung und den Konsum der Substanz
  • Anhaltender Substanzkonsum trotz schädlicher Folgen

Eine gravierende schädliche Folge von Rusts Drogen- und später Medikamentenkonsum (vor und während des frühen Handlungsstranges) sind die dadurch ausgelösten Halluzinationen. Da diese eindeutig im Zusammenhang mit dem Substanzkonsum stehen (später, als Rust nur noch trinkt, treten die Halluzinationen nicht mehr auf) und über einen längeren Zeitraum immer wieder auftreten, liegt eine halluzinatorische substanzinduzierte psychotische Störung (ICD-10: F19.52) vor, auch bekannt als Drogenpsychose.

Was Rust Cohle so charismatisch und interessant macht, ist, dass er, neben seinen vielfachen und schwerwiegenden psychopathologischen Beeinträchtigungen, ein überaus intelligenter und offenbar sehr gebildeter Mann ist, der den Zuschauer und, zu dessen Leidwesen, seinen Partner Martin Hart, an seiner depressiven Weltsicht teilhaben lässt.

Rust zeigt dabei ein für depressive Störungen typisches Denkmuster, welches die Kognitionspsychologie als Kognitive Triade bezeichnet. Diese ist durch eine negative und hoffnungslose Sichtweise auf drei zentrale Lebensbereiche gekennzeichnet:
  • Negatives Selbstbild
  • Negatives Bild von der Welt
  • Negative Erwartungen für die Zukunft

Rust schreibt den Menschen im Allgemeinen überwiegend negative Eigenschaften, vor allem Selbstsucht, Eitelkeit und Ignoranz, zu. Sich selbst nimmt er davon nicht aus, sondern beansprucht für sich lediglich, die bittere Wahrheit im Gegensatz zu der Mehrheit seiner Mitmenschen nicht zu verdrängen.

Sein, zuvor wahrscheinlich optimistischeres, Weltbild scheint durch den Tod seiner Tochter zerstört worden zu sein. Eine Welt in der unschuldige Kinder sterben und all die anderen Gräueltaten, die er in seinem Job erlebt möglich sind, kann nur schlecht sein. Um den Schmerz über den Verlust seiner Tochter besser aushalten zu können, findet der intelligente und eloquente Rust nachträglich viele gute Argumente für die Verkommenheit der Welt als Ganzes. Man nennt das Rationalisierung. So kommt er zu dem Schluss, dass es das Glück seiner kleinen Tochter war, in einer so durchweg schlechten Welt, nicht lange genug zu leben, um von ihr korrumpiert zu werden. Daran wird deutlich, dass Rust gar nicht mehr anders kann, als in der Welt nur das Schlechte zu sehen, da er sonst wieder ungeschützt seiner unverarbeiteten Trauer ausgesetzt wäre.

Das misanthropische Weltbild, das Rust sich selbst immer wieder dadurch bestätigt, dass er sich obsessiv mit Verbrechen, Leid und menschlichen Abgründen beschäftigt und alle einladenden Gesten wohlwollender Mitmenschen zurückweist, lässt ihn auch für die Zukunft nur Schlechtes erwarten: Habgier, Hass, religiöser Fanatismus und Umweltzerstörung werden, so Cohle, dazu führen, dass die Menschheit sich selbst vernichtet. Wenn es nach ihm geht, darf sie vorher noch erkennen, was ihm schon lange klar ist: Dass alles von Anfang an sinnlos war.

Psychologen nennen das Depression, Philosophen Melancholie, Nihilisten wahrscheinlich Realismus. Rusts Partner Martin versucht es mit Humor zu sehen: „Für einen Typen, der keinen Sinn in seiner Existenz sieht, machst du dir ganz schön viele Gedanken darüber.“

Mehr zur ersten Staffel von True Detective gibt es im Charakterneurosen-Podcast zu hören!
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