American History X: Derek

„Meinen Sie damit, dass der Mord an Ihrem Vater auf die Rassenfrage zurückgeht?“

„Sicher, worauf denn wohl sonst? Alle Probleme hier gehen doch auf die Rassenfrage zurück, nicht nur Verbrechen. Arbeitslosigkeit, Aids, Einwandererschwemme, das sind Probleme der schwarzen Bevölkerung, der hispanischen Bevölkerung, der asiatischen Bevölkerung, das sind keine weißen Probleme.“ 
Diese Argumentation des von Edward Norton großartig verkörperten Neonazis Derek Vinyard in dem beklemmenden Film American History X von 1998 erinnert uns an vieles von dem, was wir uns dieser Tage wieder vermehrt anhören müssen. Die Quintessenz ist: Die anderen sind schuld!
Das Bedürfnis, Irgendjemandem die Schuld geben zu können, scheint bei jenen, die so argumentieren, extrem stark, teils bis ins Zwanghafte gehend, ausgeprägt zu sein. Es hat etwas Verzweifeltes, wenn Derek auf die Nachfrage des Reporters: „Haben diese Fragen nicht viel eher mit Armut zu tun?“ antwortet: „Nein, das… Nein! Die sind auch nicht Produkte ihrer Umgebung, das ist alles Quatsch. Die Minderheiten interessieren sich einen Scheiß für dieses Land, die wollen es ausbeuten, nicht daran mitwirken.“ 
Derek ist ein intelligenter und begabter junger Mann, der soeben seinen Vater auf tragische Weise verloren hat: Er wurde von einem afroamerikanischen Drogendealer erschossen, während er in seinem Beruf als Feuerwehrmann einen Brand in einem Haus, das als Drogenumschlagsplatz diente, zu löschen versuchte. Dereks Trauer, Schmerz, Zorn und Verzweiflung müssen fast unerträglich sein. Und doch scheint es uns vorstellbar, ja sogar wahrscheinlich, dass ein solches Erlebnis auch hätte überwunden werden können, ohne zum radikalen Neonazi und schließlich gar zum Mörder zu werden.
In Sigmund Freuds klassischem Strukturmodell der menschlichen Psyche ist für die Zuordnung von Schuld und Unschuld, Gut und Böse, richtig und falsch das Über-Ich zuständig. Diese psychische Instanz bildet sich in der Kindheit zunächst vor allem anhand der Regeln, Normen und Moralvorstellungen aus, welche wir von unseren Eltern und anderen relevanten Personen vermittelt und vorgelebt bekommen (und welche ihrerseits von den geltenden gesellschaftlichen Normen und Werten bestimmt werden).
Damit bildet das Über-Ich ein Gegengewicht zur Instanz des Es, welches nicht moral- und vernunfts-, sondern triebgesteuert ist. Die Funktion des Es ist Bedürfnisbefriedigung, die des Über-Ichs soziale Integration. Vermittelnd dazwischen steht die dritte Instanz, das Ich, welches mithilfe von Abwehrmechanismen für einen sinnvollen Ausgleich zwischen den beiden gleichermaßen wichtigen Motiven zu sorgen versucht.
Die Entwicklung des Über-Ich verläuft nach Freud progredient, im Sinne einer Reifung. Sobald ein Kind andere Menschen als eigene Individuen mit eigenen Bedürfnissen wahrnimmt, beginnt Interessensausgleich und damit die Notwendigkeit von Normen eine Rolle zu spielen. Diese werden zunächst überwiegend als klare, dichotome Ge- und Verbote wahrgenommen und verinnerlicht (Freuds Lieblingsbeispiel war hier bekanntermaßen die Sauberkeitserziehung: Töpfchen gut – Alles andere böse. Nichts dazwischen). 
Während man sich als Kleinkind den elterlichen/gesellschaftlichen Regeln noch relativ fraglos unterordnen und eigene Triebwünsche angesichts der existenziellen Abhängigkeit von den Autoritäten verdrängen kann, beginnt der sich entwickelnde Geist der späteren Kindheit bereits, diese kritisch zu hinterfragen.
Und hier wird´s jetzt interessant: Ist das vorgefundene Regel- und Wertesystem hinreichend flexibel, transparent, offen und kritikfähig, kann eine kritische Auseinandersetzung damit erfolgen, welche zur Ausbildung einer immer differenzierteren, sich beständig flexibel weiterentwickelnden eigenen Moral, die funktional auf Es-Impulse, Ich-Entwicklungen, innere und äußere Anforderungen und Veränderungen zu reagieren und angesichts derer Orientierung und inneren Halt zu bieten in der Lage ist. Andernfalls droht die Über-Ich-Entwicklung auf dem früheren, unreifen Niveau zu stagnieren, ein sogenanntes „archaisches“, rigide und radikal urteilendes Über-Ich persistiert, welches den hochkomplexen Anforderungen an eine reife, differenzierte Moral nicht gerecht werden kann. Aus der Diskrepanz zwischen ebendiesen Anforderungen und dem archaisch-unflexiblen Über-Ich ergibt sich die zwingende Notwendigkeit, die Wahrnehmungswelt entsprechend der Über-Ich-Struktur permanent zu vereinfachen. Gut/Böse, schwarz/weiß, schuldig/unschuldig.
An Derek in American History X sehen wir (aufgemerkt!), das das nichts mit Intelligenz zu tun hat. An der fehlt es ihm nämlich mitnichten. Doch die rigiden Werturteile seines Vaters haben Dereks Über-Ich-Entwicklung mit Denkverboten und rassistischen Pseudoerklärungen behindert, so dass er später, angesichts seines unerträglichen Leids, all die komplexen und verstörenden Gefühle komprimiert und in einer einzigen, rasenden Externalisierung den ethnischen Minderheiten zum Vorwurf macht und dafür an ihnen Rache nimmt.
Externalisierung ist einer der beiden einseitig vereinfachenden Lösungsmodi innerer Schuldkonflikte. Da die ganze Schuld, mit hohem emotionalem Kraftaufwand, auf andere projiziert wird, sprechen wir vom aktiven Modus. Dem gegenüber steht der passive Modus, die Internalisierung, bei der die ganze Schuld vorauseilend und undifferenziert selbst übernommen wird, was mit quälenden Selbstvorwürfen einen nicht minderen emotionalen Preis fordert. Unbewusst jedoch schützt der passive, masochistisch sich selbst geißelnde Modus vor der verletzenden und verstörenden Wirkung tatsächlicher, differenzierterer und dadurch treffenderer Verantwortung oder Schuld und deren wirklicher Übernahme.
Ein Beispiel für den passiven, internalisierenden Modus ist die Tänzerin Claire aus der Mini-Serie Flesh and Bone. Claires Mutter ist tot, ihr Vater ein aggressiver Tyrann und ihr Bruder ein traumatisierter Kriegsheimkehrer. Claire übernimmt für die Beschissenheit der Gesamtsituation die Verantwortung, weil die ihr gebliebenen Beziehungspersonen alle Verantwortung für ihr Leid externalisieren und gegen diese aufzubegehren für Claire zu gefährlich wäre. Also schmeißt sie den Haushalt, lässt sich vom Vater beschimpfen und vom Bruder missbrauchen, so als sei das das mindeste was sie tun könne. Auch als sie es schließlich schafft, sich fluchtartig der Situation zu entziehen, quälen sie weiterhin schwere Schuldgefühle, welche sie in Form von Selbstverletzung immer wieder an sich selbst ausagiert. 
Derek Vinyard scheint bei all seinem Hass unbewusst doch zu ahnen, dass er durch seinen rassistischen Kreuzzug selbst erheblich Schuld auf sich lädt, ebenso wie sein Vater durch seine rassistischen Reden am Mittagstisch. Fast scheint Derek den Rechtsstaat dazu zwingen zu wollen, ihn ins Gefängnis zu stecken. Erst als er dort massiv Buße geleistet hat, also gleichsam in den radikalen (internalisierenden) Gegenmodus gewechselt hat, kann er seinen Schuldkonflikt auflösen und vorübergehend innere Ruhe finden. Seinem kleinen Bruder erklärt er es so: „Du musst Dir vorstellen, dass ich zwei Leute getötet habe. Getötet! … Und ich fühlte mich genau so wie vorher, nur noch viel verwirrter. Und ich bin es leid, dauernd wütend zu sein, Danny, ich bin es einfach leid.“

Dieser Artikel ist in leicht veränderter Form auch auf filmschreiben.de im Rahmen meiner Artikelreihe zu den sieben psychologischen Grundkonflikten erschienen.

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Club der roten Bänder: Emma

Es gibt viele Gründe, sich über die VOX-Serie Club der roten Bänder zu freuen. Eine europäische Serie (deutsche Adaptation eines katalanischen Originals), die so differenziert, unterhaltsam, tragikomisch und plausibel ist, wie die erfolgreichen US-Produktionen. Eine Serie, der es gelingt, jugendliche Protagonisten glaubwürdig darzustellen. Und – darauf habe ich lange gewartet – eine Serie, die mit viel Sorgfalt und Einfühlsamkeit das Thema Essstörungen behandelt.

Emma, das einzige Mädchen im Club der roten Bänder, wird im Krankenhaus wegen einer Anorexia nervosa behandelt, der Krankheit, die auch als Magersucht bekannt ist.

Nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F50.0) ist die Anorexia nervosa durch die folgenden Symptome definiert:
  • Das Körpergewicht liegt unter einem Body-Mass-Index (BMI) von 17,5
  • Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch Vermeidung von hochkalorischer Nahrung 
  • Körperschemastörung
  • Endokrine Störung: Bei Mädchen/Frauen Amenorrhoe (Ausbleiben der Periode), bei Jungen/Männern Libido- und Potenzstörungen
Emma ist deutlich untergewichtig und muss daher regelmäßig gewogen werden, um ein lebensbedrohliches Untergewicht auszuschließen. Darüber hinaus dient das regelmäßige Wiegen der behandelnden Ärztin als Kontrolle des Therapieverlaufs, da Emma, was im Rahmen ihrer Erkrankung häufig vorkommt, über ihr Essverhalten lügt und heimlich Essen verschwinden lässt. Dass Emma vor dem Wiegen von ihrer Ärztin abgetastet wird, dient dazu, auszuschließen, dass sie durch das Verstecken kleiner, schwerer Gegenstände in ihrer Wäsche die Waage manipuliert.

Den Jungs im Club der roten Bänder fällt es, wie vielen Außenstehenden, zunächst schwer, nachzuvollziehen, warum Emma nicht „einfach was isst“. Sie bekommt jedoch in der Serie immer wieder Gelegenheit den Jungs und uns Zuschauern über ihre Gefühle zu berichten. Wir lernen, dass ihre Eigenwahrnehmung bezüglich ihres Körpers im Verlauf der Krankheit stark verzerrt worden ist. Trotz ihres objektiven Untergewichts, empfindet sie ihren Körper weiterhin als „zu fett“. Dieses Symptom bezeichnet man als Körperschemastörung.

Die Angst davor, „noch fetter“ zu werden, hat bei Emma zu einem Ekel, einer regelrechten Angst, vor Essen geführt. Wenn sie zum Essen gezwungen wird, fühlt sie sich schon nach kleinsten Mengen voll, dick und unwohl und erbricht ihr Essen wieder, um dieses Gefühl loszuwerden.

Wer nicht an einer Essstörung (oder anderen schweren Krankheit) leidet, kann sich vermutlich kaum vorstellen, wie es sich anfühlen muss, ständig unter Druck zu sein, gegen das eigenen Gefühl, die eigene Körperwahrnehmung, zu handeln. Darum betrügt Emma beim Essen und Wiegen, versteckt ihren dünnen Körper unter weiter Kleidung und reagiert gereizt und aggressiv-abwehrend auf Kommentare oder Vorschriften bezüglich ihres Essverhaltens.

Die Ursachen einer Anorexia nervosa sind vielfältig und lassen sich selten eindeutig festlegen. Häufig spielen jedoch, neben genetischen, sozialen und anderen persönlichen Faktoren, Selbstwertprobleme eine Rolle.

Teufelskreise halten die Erkrankung aufrecht: Aus Selbstunsicherheit entsteht der Wunsch, etwas dünner und damit vermeintlich attraktiver zu sein. Ersten anerkennenden Rückmeldungen folgen eher Abwertung und Kritik und schließlich Druck und Zwang, wieder mehr zu essen. Diese können Angst sowie Scham- und Schuldgefühle hervorrufen, was das Selbstwertgefühl weiter schwächt…

Günstig für Emma ist, dass Leo und Jonas sich in sie verlieben und ihr damit die intensivste positive Rückmeldung über ihre Persönlichkeit geben, die vorstellbar ist. Damit setzen sie, ohne es zu wissen, vielleicht genau am entscheidenden Auslöser von Emmas Erkrankung an und geben, so scheint es zumindest in der ersten Staffel, den Anstoß zur Veränderung.


Über Emma und ihre Freunde vom Club der roten Bänder sprechen wir auch in der fünften Folge des Charakterneurosen-Podcasts.

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The Purge, Es, Scream: Clowns hinter Masken


Über Phänomene wie die sogenannten Horror-Clowns sollte man so wenig wie möglich berichten. Nicht nur, weil sie aufgrund ihrer Seltenheit kaum relevant sind, sondern vor allem auch, weil dadurch den Tätern unverdiente Aufmerksamkeit zuteilwird und dies wiederum Nachahmer animieren könnte. Aus der Suizidforschung kennen wir den sogenannten Werther-Effekt, benannt nach der ersten bekannten medial ausgelösten Suizidwelle infolge des Erscheinens von Goethes Leiden des jungen Werther.

„So verwirrten sich meine Freunde daran, indem sie glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit verwandeln […] und sich allenfalls selbst erschießen: und was hier im Anfang unter Wenigen vorging, ereignete sich nachher im großen Publikum“
J. W. v. Goethe

Der Werther-Effekt, also das animiert werden zur eigenen Durchführung suizidaler Handlungen infolge der öffentlichkeitswirksamen Darstellung ebensolcher, ist besonders stark, wenn die Berichterstattung emotionalisiert, detailreich, verherrlichend oder romantisierend ist und die Persönlichkeit und ihre individuellen Beweggründe intensiv zu analysieren versucht. Schillernde, raumgreifende Fotos, Grafiken und Überschriften tragen zur Aufmerksamkeit und damit zu der Verheißung, diese im Falle einer Nachahmung auch zu bekommen, bei.
Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention hat daher Empfehlungen für die mediale Berichterstattung über Suizide veröffentlicht.


Dass ich mich jetzt an dieser Stelle dennoch mit den Clowns befasse, liegt an meinen Patientinnen und Patienten, die sich derzeit stark mit dem Thema beschäftigen. Ein zehnjähriger Junge war sehr aufgeregt, weil er fürchtete, die Clowns würden, wie er es in The Purge gesehen hatte, aufgrund ihrer Maskierung ungestraft mordend durch die Stadt ziehen und es käme an Halloween zur großen „Säuberung“ (dt. Untertitel des Films The Purge).

The Purge, Es, Scream… Aggressive Gewalttäter mit maskierten Gesichtern sind uns aus der Popkultur vertraut. Dabei ist die Tatsache, dass die Maske die Mimik – und damit den wichtigsten Teil der nonverbalen Kommunikation – verbirgt, entscheidend und weniger das, was die Maske darstellt. Der Blick ins Gesicht des Gegenübers gibt uns normalerweise Aufschluss über dessen Gestimmtheit, Motive und Einstellungen uns gegenüber. Fehlen diese Signale, fehlt uns Information, die uns die soziale Situation verstehbar, überschaubar und damit handhabbar macht und uns so Sicherheit vermittelt.

Handelt es sich um Clowns, mag der Kontrast zwischen einer eigentlich als lustig geltenden Darstellung und dem aggressiv-bedrohlichen Auftreten, die Verwirrung und damit die Angst noch etwas verstärken. (Deshalb ist der Joker aus The Dark Knight zwar bedrohlich, aber weniger gruselig, weil sein Lächeln gar keines mehr ist und damit die Gesamterscheinung weniger diskrepant wirkt). Allerdings haben viele Kinder auch schon vor normalen Clowns Angst. Auch hier zeigt sich also die verstörende Wirkung fehlender nonverbaler Signale.

Die groteske Verschleierung der nonverbalen sozialen Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten ist ein Grund für die ängstigende Wirkung von Masken.
Ein zweiter ist unser unbewusstes Wissen um den psychologischen Effekt der De-Individuation: Wird die eigene, individuelle Identifizierbarkeit reduziert – sei es weil wir Teil einer anonymen Masse sind, weil wir anonym im Internet kommunizieren, weil wir uniformiert, oder eben maskiert sind – reduziert dies die Hemmung aggressiver und antisozialer Impulse, die Tendenz zu normverletzenden und extremeren Verhaltensweisen steigt. Da wir diesen Effekt aus eigener Erfahrung kennen, unterstellen wir ihn (zu Recht) auch den maskierten Clowns und fürchten deren enthemmte Aggression.

Im Kino kann das Spaß machen, weil uns die maskierten Monster die Möglichkeit geben, intensive Erregung in Form von Angst, Schreck und Ekel (gefolgt von intensiv erlebter Erleichterung) zu empfinden, und in dem Wissen um die Fiktionalität des gezeigten, in der Sicherheit des Kinosessels, nicht dauerhaft die Kontrolle über diese Gefühle zu verlieren. (Dass dies meinem zehnjährigen Patienten nicht gelungen ist, verdeutlicht den Sinn und die Notwendigkeit von Altersbeschränkungen solcher Medien.)

Nun habe ich also doch über die Horror-Clowns geschrieben. Ich habe mich bemüht, dies in sachlichem Ton zu tun und verzichte auf reißerische, emotionsgeladene Bilder und auf den Versuch einer Analyse oder gar Mystifizierung der Motive der Täter.
Bleibt mir noch, in Kenntnis der begrenzten Reichweite und Zielgruppe meines Blogs, darauf zu hoffen, dass sich ohnehin keine potentiellen Nachahmungstäter unter den Lesern befinden.


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Buchbesprechung: Winter is coming – die mittelalterliche Welt von Game of Thrones

Der Theiss Verlag hat mir ein Exemplar des Buches Winter is Coming – Die mittelalterliche Welt von Game of Thrones geschenkt, mit der Bitte, es zu rezensieren.
Wohl an: In Winter is Coming analysiert die englische Literaturwissenschaftlerin Carolyne Larrington Handlungsstränge, Figuren und Schauplätze sowohl aus der Serie Game of Thrones, wie auch aus der literarischen Vorlage A Song of Ice and Fire, im Hinblick auf historische Vorbilder und Entsprechungen. Das Buch ist anhand der Geographie von Westeros (und Essos) gegliedert und unterteilt in die Kapitel

  • Das Herz des Landes
  • Der Norden
  • Der Westen
  • Jenseits der Meerenge
  • Der Osten
Innerhalb dieser Kapitel werden in Unterkapiteln Figuren, Institutionen und Orte der jeweiligen Region behandelt. Diese könnte man eigentlich auch gut separat, bzw. in der Reihenfolge individuellen Interesses lesen, wofür allerdings ein detailliertes Inhaltsverzeichnis wünschenswert gewesen wäre. (Demgegenüber positiv hervorzuheben ist die gewissenhafte Kennzeichnung von Spoilern).
So liegt es dann doch nahe, sich von Vorne nach Hinten durchzulesen, wofür jedoch schon ein nicht unerhebliches Maß an Interesse für frühe Geschichte notwendig ist und einfaches Game of Thrones-Fantum vermutlich nicht ausreicht. Ersteres gegeben, darf man sich jedoch auf detail- und kenntnisreiche Einführungen in eine Vielzahl historischer Themen, ausgehend von George R. R. Martins Fiktionen freuen. Dass hierbei die ein oder andere Parallele zwischen Geschichte und Geschichten auch mal ein Bisschen konstruiert anmutet, lässt sich wohl nicht vermeiden und ist zu verkraften.
Und so werden bei dieser Reise in die Geschichten von Westeros und die Vergangenheiten unserer Welt auch scheinbar universell menschliche psychologische Muster auf eindrückliche – und oft genug bedrückende – Weise sichtbar.

aber eben auch die fast zwangsläufige Korrumpierung religiöser Dogmen durch autoritäre und narzisstische Motive einzelner, mehr oder weniger charismatischer, Hasardeure.
Oder der historische rote Faden der Entwertung, Misshandlung und Diskriminierung von Frauen, von der nicht nur Cercei und Sansa ein Lied singen können. Dabei sind die psychologischen Mechanismen dort und damals nicht anders als hier und heute. Wenn der lustfeindliche alte High Sparrow Cercei (und Loras) Unkeuschheit vorwirft, dann sind dies Projektionen seiner eigenen verdrängten Bedürfnisse, welche (offen) zu leben ihm das Dogma seiner Religion verbietet, gegen welches er sich dennoch nicht wenden mag, weil es ihm Macht, Ansehen, Selbstwertgefühl und Lebenssinn sichert. Dies ist auch der Grund für die ansonsten völlig unnötige Sexualisierung des Strafrituals: Wenn die Königin nackt durch die Stadt gejagt wird, lassen sich die verbotenen sexuellen Phantasien wenigstens voyeuristisch etwas befriedigen.
So wie dem High Sparrow ging es auch den guten (männlichen) Christenmenschen des Mittelalters, die sich ihren eigenen Ehebruch und die selbst begangenen Vergewaltigung nur so zu erklären wussten, dass ihre Opfer, mit dem Teufel im Bunde, ihre edlen Sinne verhext haben müssten.
Hier lässt sich einer von vielen Bögen in unsere Gegenwart schlagen, wo eigene sexuelle und aggressive Impulse von Männern auf Frauen projiziert werden, wenn Nein Ja heißen und die falsche Kleidung eine Einladung zur sexuellen Belästigung sein soll.

Aber, ich schweife ab. Winter is Coming ist das ideale Weihnachtsgeschenk für den etwas breiter interessierten Game of Thrones-Fan und in der Lage die Wartezeit auf Staffel 7 unterhaltsam zu versüßen.

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Podcast Folge 02 – The Big Bang Theory

In der zweiten Folge des Charakterneurosen-Podcasts besprechen Dr. Gebele und Herr Andreas die Serie The Big Bang Theory. Wir lernen etwas über Autismus, das Asperger-Syndrom, soziale Phobien, Mutismus, Mutter-Kind-Symbiosen und selbstunsichere Persönlichkeiten. Außerdem geht es um grüne Psychopharmakologie, weiße Cuokolade, rote Inder und blasse Biere

Hier geht es zum Podcast 


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Podcast Folge 01 – Stranger Things

Die erste Folge des Charakterneurosen-Podcasts ist online! Es geht um Stranger Things. Wir lernen etwas über Mutismus, Bindungsstörungen, paranoide Schizophrenie, Kindesmissbrauch, Gruppendenken und schädlichen Gebrauch von Alkohol. Außerdem geht es um MK Ultra, Winona Ryders Tics und deutsch-amerikanische Bierassoziationen.


 



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Suicide Squad: Harley Quinn

Zu Suicide Squad ist ja von Kritikerseite bereits alles gesagt. Auch die Geschichte der Psychiaterin, die dem Joker verfällt, derentwegen ich mir den Film, trotz der (zu Recht) vernichtenden Kritiken, angesehen habe, wird nur oberflächlich behandelt.
Was wir dennoch erfahren, ist, dass Dr. Harleen Quinzel, die spätere Harley Quinn, im Arkham Asylum (der legendären forensischen Psychiatrie Gotham Citys) offenbar psychotherapeutische Gespräche mit dem Joker führte, in deren Rahmen sie sich immer mehr in ihn verliebte. Ein beliebtes Motiv, das zeigt, dass die psychotherapeutische Beziehung, ihre Beschaffenheit, Regeln und Grenzen, Autoren nachhaltig interessieren.
In Film und Fernsehen wird die therapeutische Beziehung dem hohen Anspruch, einerseits echte intensive Gefühle und tiefes Vertrauen hervorzubringen und gleichzeitig streng auf die Therapie und deren Ziele begrenzt zu bleiben, oft nicht gerecht. So ergab die Auswertung von über 100 Filmen*, in denen Psychotherapeuten vorkamen, dass diese in 45% der Fälle die Grenzen des therapeutischen Rahmens überschritten. Etwa die Hälfte der Grenzüberschreitungen war sexueller Natur.
In der Realität sind solche schweren therapeutischen Kunstfehler zum Glück seltener, wenngleich sie natürlich vorkommen. Gelingt es, eine gute, konstruktive und tragfähige therapeutische Beziehung aufzubauen, ist diese einer der wichtigsten, in manchen Studien sogar der wichtigste Wirkfaktor erfolgreicher Psychotherapien. „Gut“ ist die therapeutische Beziehung dann, wenn Therapeut und Patient sowohl wohltuende, Vertrauen und Sicherheit fördernde Nähe aufbauen, als auch das Geschehen innerhalb und außerhalb der Therapiesitzungen analytisch reflektieren und zwischen diesen beiden Ebenen flexibel hin- und herwechseln können. Um nicht in die Gefahr zu geraten, dauerhaft zu einseitig zu agieren, also sich zum Beispiel zu unreflektiert auf die positiven Gefühle gegenüber dem Patienten einzulassen und sich in Rettungs- oder Liebesphantasien zu verlieren, praktizieren Psychotherapeuten in den ersten Jahren ihrer Tätigkeit nur unter Supervision erfahrener Kollegen, denen sie regelmäßig über den Therapieverlauf berichten.
Dies scheint Dr. Quinzel versäumt zu haben, weshalb niemand intervenieren kann, als sie sich mehr und mehr in ihren manipulativen Patienten verliebt und diesem schließlich zur Flucht verhilft.
Im Rahmen des Ausbruchs kommt es zu einer eigenartigen Szene: Obwohl Harley dem Joker bereits verfallen und ergeben zu sein scheint, lässt er sie überwältigen und verabreicht ihr Elektroschocks. Es wirkt, als sei der Joker mit der Elektrokrampftherapie (EKT), bei welcher mittels Stromstößen gezielt Krampfanfälle des Gehirns ausgelöst werden, vertraut.
Vermutlich wurde er ihr selbst in Arkham gegen seinen Willen unterzogen. Indem er nun Harley dasselbe antut, wehrt er das Gefühl des passiven Opfers ab und projiziert es auf Harley, um sich selbst wieder aktiv, stark und wehrhaft fühlen zu können. Es ist einer von mehreren grausamen Akten des Jokers, die alle dazu dienen, Harley zu dem irren, albernen aber auch unheimlichen Freak zu machen, als welcher er selbst von allen anderen gesehen wird.
In unserer Realität wird EKT tatsächlich zur Behandlung schwerer Depressionen und Schizophrenien eingesetzt, wenn psychotherapeutische und medikamentöse Behandlungsversuche erfolglos bleiben. Allerdings nur, wenn der Patient dem zustimmt.
Die durch die elektrischen Impulse ausgelösten Krampfanfälle des Gehirns stoßen dabei dessen Selbstheilungskräfte an, so dass bestimmte Botenstoffe wieder ins Gleichgewicht gebracht und neuronale Verbindungen quasi repariert werden können.
Bei Harley Quinn, die vor der EKT keine psychiatrischen Symptome zeigt, ist diese selbstverständlich absolut kontraindiziert und erwirkt somit auch eine geradezu paradoxe Reaktion: Die EKT löst bei Harley deutliche Symptome einer Manie aus. Diese affektive (= die Stimmung betreffende) Störung, kann sich nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F30.2) unter anderem äußern durch:
  • gesteigerte Aktivität, motorische Ruhelosigkeit
  • gesteigerte Gesprächigkeit, Rededrang
  • Verlust sozialer Hemmungen, unangemessenes Verhalten
  • überhöhte Selbsteinschätzung
  • Ablenkbarkeit
  • Tollkühnes oder leichtsinniges Verhalten ohne Risikobewusstsein
  • Gesteigerte Libido oder sexuelle Taktlosigkeit
Darüber hinaus kann eine manische Episode mit psychotischen Symptomen (Wahn, Halluzinationen) einhergehen, was Harley andeutet, wenn sie berichtet, Stimmen zu hören oder sich nicht sicher ist, ob es sich bei Enchantress um eine optische Halluzination handelt.
Somit unterscheidet sich Harley, bei aller Liebe und äußerlichen Ähnlichkeit, vom Joker. Während dessen Fröhlichkeit nur Sarkasmus ist, ein Stilmittel, welches seinen Zorn noch grausamer wirken lässt, ist Harleys Stimmung, infolge der Manie, tatsächlich gehoben. Sie genießt weniger die Grausamkeit, als vielmehr die Action um ihrer selbst willen. Während der Joker planmäßig handelt, um andere, meist Batman, zu provozieren, tut und sagt Harley impulsiv wonach ihr ist und hat wenig Gespür und kaum Interesse für die Konsequenzen. Der Joker möchte Angst verbreiten, weil die Gesellschaft ihn verstoßen hat. Darum stiftet er Chaos. Harley kehrt der Gesellschaft den Rücken, weil das Chaos aufregender ist.
Manien verlaufen episodisch (im Gegensatz zu der zeitstabilen und situationsübergreifenden dissozialen Persönlichkeitsstörung des Jokers). Auf manische Phasen mit starker Symptomatik folgen Phasen, in denen die gesunde Grundpersönlichkeit wieder hervortritt, die sich, auch bei Harley Quinn, „normale“ Dinge wünscht: Eine Familie, ein Tässchen Espresso, ein gutes Buch…
*Gharaibeh, N.M. (2005). The psychiatrist’s image in commercially available American movies. Acta psychiatrica Scandinavica, 111(4), 316-319.
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Stranger Things: Elfi

In Stranger Things begegnet uns die kleine 011, genannt Elfi, die (zunächst) nicht spricht. Wir erfahren allerdings schnell, dass Sprachverständnis und auch die Fähigkeit zu sprechen eigentlich intakt sind. Es scheint vielmehr so zu sein, dass sie diese Fähigkeiten im sozialen Kontakt zunächst kaum einsetzen kann. Elfi zeigt damit die Symptome eines elektiven Mutismus. Diese Störung wird in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F94.0) wie folgt definiert:
  • Nachweisbare beständige Unfähigkeit, in bestimmten sozialen Situationen, in denen dies erwartet wird, zu sprechen. In anderen Situationen ist das Sprechen möglich
  • Häufiges Einsetzen nonverbaler Kommunikation (Mimik, Gestik, schriftliche Aufzeichnungen)
  • An sich vorhandene Altersentsprechende Kompetenz im sprachlichen Ausdruck der situationsabhängigen Sprache

 
Der elektive Mutismus wird in der ICD-10 den sogenannten Störungen der sozialen Funktionen mit Beginn in der Kindheit (F94) zugeordnet. Diese Störungen stellen häufig (aber nicht in jedem Einzelfall zwingend) Reaktionen auf bestimmte ungünstige soziale Bedingungen und negative oder unzureichende Erziehungserfahrungen mit den nächsten Bezugspersonen dar. Hierzu zählen Vernachlässigung, körperliche und psychische Gewalt sowie sexueller Missbrauch.

 
Aus psychotherapeutischer Sicht sind folglich Elfis frühere Beziehungserfahrungen interessant, über die wir in Stranger Things durch wiederholte Rückblenden tatsächlich einiges erfahren können. Elfi wurde unter mysteriösen Umständen von ihrer leiblichen Mutter getrennt und von Dr. Brenner in einem Labor aufgezogen, der vorgibt ihr Vater zu sein. Ob er ihr biologischer Vater ist, oder nicht, spielt dabei eine untergeordnete Rolle, denn für Elfi ist er lange Zeit die einzige elterliche Bezugsperson, ihr „Papa“. Wie jedes Kind hat sie eine starke emotionale Bindung zu ihrer primären Bezugsperson aufgebaut. Sie vertraut Dr. Brenner, genießt seine Zuwendung und fühlt sich von seinem Wohlwollen ihr gegenüber existenziell abhängig.

 
Diese starke emotionale Bindung, die dazu führt, dass Elfi – wie jedes Kind – alles ihr Mögliche dafür tun würde, um ihren Vater zufriedenzustellen, wird von diesem in schamloser und egoistischster Weise missbraucht. Wie immer es seinen Zwecken dient, manipuliert er Elfi, ködert sie mit der von ihr so dringend benötigten Zuwendung, nimmt keine Rücksicht auf ihre psychische und körperliche Gesundheit und hält sie in strikter Isolation, um die Abhängigkeit von seiner „Liebe“ konkurrenzlos aufrechtzuerhalten.

 
Damit liegt ein schwerer und langjähriger, v.a. psychischer, aber auch körperlicher, Missbrauch vor. Wie in der überwiegenden Mehrheit der Missbrauchsfälle stammt der Täter aus dem nahen sozialen Umfeld des Opfers und macht sich dessen emotionale Abhängigkeit zunutze. Diese ist auch der Grund, warum die Opfer sich selten, und wenn, dann oft erst spät, Hilfe holen. Genau wie Elfi, die lange Vieles mitmacht und erduldet, was ihr seelisch, moralisch und körperlich zuwider ist – aus Loyalität zu ihrer einzigen wichtigen Bezugsperson und aus Angst, deren Zuneigung zu verlieren. Vielleicht ahnt sie auch, trotz der gelungenen Abschottung gegenüber der Außenwelt, dass Dr. Brenners Versuche unethisch und vermutlich illegal sind und versucht ihn, durch ihre Kooperation vor Sanktionen zu schützen – ebenfalls ein häufiges Phänomen bei missbrauchten Kindern. So wird, Schätzungen zufolge, in Deutschland nur etwa einer von zwanzig Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern zur Anzeige gebracht!

 
Elfi zeigt, über den Mutismus hinaus, zahlreiche weitere Symptome und Verhaltensweisen, die typisch für Kinder mit Bindungsstörungen, also als Folge unzureichender oder negativer Erfahrungen mit nahen Bezugspersonen, sind (wenngleich diese immer nur als Hinweis auf die Möglichkeit solcher Erfahrungen, nicht als Beweis für diese gelten können).

 
Bei Elfi können wir, nachdem sie aus dem Labor geflohen ist und mit der Außenwelt in Kontakt tritt, ein recht typisches Störungsbild missbrauchter Kinder erkennen, nämlich das der sogenannten reaktiven Bindungsstörung des Kindesalters (ICD-10: F94.1). Diese ist gekennzeichnet durch ein ungewöhnliches, von der Altersnorm abweichendes, Beziehungsmuster, welches durch Ambivalenz und Widersprüchlichkeit gekennzeichnet ist: Einerseits suche nach Kontakt und Nähe, andererseits Angst und Schreckhaftigkeit mit der Folge plötzlichen Rückzugs oder aggressiver Abwehr.

Weitere Symptome einer reaktiven Bindungsstörung, die bei Elfi vorliegen, sind:

  • Schwierigkeiten, mit Gleichaltrigen adäquat zu interagieren
  • Gegen sich selbst und andere gerichtete Aggression
  • Furchtsamkeit, Misstrauen, übertriebene Wachsamkeit
  • Traurigkeit
  • Mangel an emotionaler Ansprechbarkeit
  • Mangel an (positiven) emotionalen Reaktionen
 
Typisch für die reaktive Bindungsstörung ist jedoch auch, dass ihre Symptome sich (im Vergleich zu anderen psychiatrischen Symptomen) relativ schnell wieder zurückbilden können, wenn das Kind dauerhaft in ein günstigeres soziales Umfeld, mit schützenden, wertschätzenden und verlässlichen Bezugspersonen kommt.

 
So wird für Elfi Mikes Freundschaft, sein Vertrauen und seine Bereitschaft, immer wieder auf sie zuzugehen, selbst wenn sie sich eigenartig und bedrohlich verhält, zur wirksamsten Therapie.

 
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Game of Thrones: Die Sieben

Schon wieder Game of Thrones? Nun, die fulminante sechste Staffel hat offenbar auch bei mir großen Eindruck hinterlassen. Außerdem eignet sich Game of Thrones, wie wir schon bei der Viersäftelehre gesehen haben, wunderbar für die Anwendung älterer, etwas mystischerer Theorien.

Bei weitem nicht so alt wie Hippokrates‘ lange überholte Lehre von den vier Körpersäften, aber in der modernen Psychotherapie gleichwohl nur noch selten anzutreffen, sind die klangvollen, spirituellen, fast märchenhaft schönen Theorien Carl Gustav Jungs, Sigmund Freuds bekanntesten Schülers.

Eines der populärsten Konzepte Jungs ist das kollektive Unbewusste. In Ergänzung zum persönlichen Unbewussten, in welchem sich verdrängte Gedanken, Gefühle und Erinnerungen einer Person finden, geht Jung von der zusätzlichen Existenz eines allen Menschen gemeinsamen Unbewussten, in welchem allgemeine gedanklich-emotionale Grundmuster, die sogenannten Archetypen, unabhängig von den persönlichen Erfahrungen eines Menschen, bereits angelegt sind. Das kollektive Unbewusste verbindet und prägt somit alle Menschen, wird aber durch sie auch beeinflusst und verändert.

In Game of Thrones wird die Idee des kollektiven Unbewussten in der Gestalt des dreiäugigen Raben aufgegriffen. Als Bran zum dreiäugigen Raben wird, erhält er auf magische Weise Zugang zu Erinnerungen, die nicht seine eigenen sind, die aber offenbar im kollektiven Unbewussten von Westeros bewahrt wurden.
Derlei magische Fähigkeiten sind in unserer Realität unwahrscheinlich und auch C. G. Jung hätte sie nicht vorausgesetzt. Aber auch schon lange bevor Bran diese Fähigkeit versteht und zu kontrollieren lernt, scheinen sich ihm Inhalte aus dem kollektiven Unbewussten in Träumen, Tagträumen und Visionen aufzudrängen, ebenso wie auch anderen, z.B. Jojen Reed. Vielleicht auch Melisandre, allerdings könnte sie auch einfach nur eine religiöse Fanatikerin sein.

Apropos religiöse Fanatiker: In der Religion der Sieben, welche ja bis zum Ende der sechsten Staffel immer größere Bedeutung gewinnt, ist ein weiteres Konzept C. G. Jungs verarbeitet: Die Lehre von den Archetypen.
Jung ging davon aus, dass sich die personen- und generationenübergreifenden Grundmuster menschlichen Fühlens regelmäßig in Form bestimmter typischer Symbole, der Archetypen, Ausdruck verleihen.

In den sieben neuen Göttern von Westeros können wir klassische jungsche Archetypen erkennen, die uns auch aus den Märchen, Mythen und Religionen unserer Welt vertraut sind. Und da Game of Thrones selbst als veritabler Mythos unserer Zeit gelten kann, sind dieselben Archetypen auch in den Charakteren der Serie verkörpert.

  1. Der Vater, der für Recht, Ordnung und Gerechtigkeit steht: Ned Stark, Jeor Mormont.
  2. Die Mutter als Symbol für Fruchtbarkeit, Fürsorge und Barmherzigkeit: Catelyn Stark und immer mehr auch Daenerys Targaryen.
  3. Die Jungfrau, die Unschuld, Liebe und Schönheit verkörpert: Sansa, Margaery, Gilly und Talisa. Meist verliert die Jungfrau irgendwann ihre Unschuld, was ihr dann zum Verhängnis wird.
  4. Die alte Weise, welches für Weisheit und Vorsehung steht: Olenna Tyrell, Melisandre und diverse Hexen und Wahrsagerinnen.
  5. Der Krieger, der Mut und Tapferkeit symbolisiert: Allen voran Jon Snow. Aber auch Brienne und Arya.
  6. Der Schmied, zuständig für Arbeit, Fleiß und Talent: Gendry, Davos und Sam.
  7. Und schließlich: Der Fremde, der im Glauben der Sieben den Tod darstellt, aber auch für das Unbekannte und Ungewisse steht und den wir aus anderen Mythen auch in Gestalt des Teufels, des Schattens oder des listigen Schelms kennen. In Game of Thrones begegnet er uns in Form der Whitewalker. Aber auch undurchsichtiger und schelmischer Charaktere wie Tyrion, Littlefinger und Jaqen H’ghar.

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Game of Thrones: Ramsey Bolton – Ein Nachruf

Ramsey Bolton, vormals Snow, ist tot. 

„Endlich!“ mag der Großteil der Game of Thrones-Zuschauer erleichtert ausrufen.

Aber was hatten wir eigentlich alle gegen Ramsey? War er denn der einzige Lügner, Mörder, Folterer und Vergewaltiger in der grausamen Welt von Game of Thrones?

Nein. Und irgendwie doch. Aber dazu später mehr. 

In Game of Thrones wird uns jede erdenkliche Form der Gewalt gezeigt, kaum jemand bleibt unschuldig. So unterschiedlich die Motive und Erscheinungsformen der Gewalt, so allgegenwärtig ist sie doch. 

Der Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma* schlägt vor, Gewalt in drei Kategorien zu unterteilen. Diese sollen sowohl für physische als auch psychische Gewalt gelten, weil Reemtsma der Ansicht ist, dass auch psychische Gewalt letztlich immer auf die (befürchtete) Verletzung des Körpers (mit-)abzielt. 

  1. Lozierende Gewalt (lateinisch: locare = setzen, stellen, legen) ist instrumentell. Das bedeutet, sie ist Mittel zum Zweck. Könnte das angestrebte Ziel gewaltlos schneller, einfacher oder effektiver erreicht werden, würde vermutlich dieser andere Weg gewählt. Andernfalls muss der Körper des Feindes „aus dem Weg geräumt“ (locare) werden. Daenerys Targaryen wendet ständig lozierende Gewalt an. Meist versucht sie zunächst, ihre Ziele argumentativ zu erreichen, oft ist aber Gewalt das effektivste Mittel. Auch Tywin Lannister, sicher kein Sympathieträger, übte zwar ungerührt, aber doch meist instrumentell, Gewalt aus. Ganze Heere opferte er für seine Zwecke, aber immer mit Bedacht und Kalkül. Selbst „the honorable Ned Stark“ schwang stets selbst das Schwert, um Recht und Ordnung zu erhalten.
  2. Raptive Gewalt (lateinisch: rapere = rauben) ist dagegen nicht auf einen sekundären Zweck gerichtet, sondern auf den Körper, dem Gewalt angetan wird, selbst. Hierzu zählen insbesondere alle Formen sexueller Gewalt. Auch deren gesamtes Spektrum wird uns in Game of Thrones vor Augen geführt. Das beginnt bei sexistischen Äußerungen und der Androhung sexueller Gewalt und endet bei Vergewaltigungen, die nicht nur von Finsterlingen wie Gregor Clegane, sondern durchaus auch Helden wie Khal Drogo und Jamie Lannister begangen werden.
  3. Autotelische Gewalt (griechisch: autos = selbst, telos = Zweck) befriedigt hingegen gar kein weiteres bewusstes Motiv. Sie wird als Selbstzweck mit Genuss verübt. Dieser kann wolllüstig getönt sein, wie bei Joffreys Sadismus, der dennoch nicht wirklich sexuell motiviert ist. Andere lieben und suchen die Euphorie des Blutrauschs, wie die Cleganes, die Dothraki oder Daario Naharis.
(Natürlich muss aus psychologischer Perspektive ergänzt werden, dass auch autotelische Gewalt immer von unbewussten – individuell sehr unterschiedlichen – Motiven angetrieben wird. Die Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen und Entwertungserfahrungen, die Projektion eigener Aggressionen und Schuldgefühle auf das Opfer und vieles mehr kommen hier in Frage. An dieser Stelle wollen wir uns aber mit der phänomenologischen Betrachtung der Gewalt begnügen.)
Wie jede Kategorisierung, beschreibt auch die reemtsmasche Gewalttypologie gedachte Idealtypen, die sich in der Realität mischen und ineinander übergehen. So scheinen Söldner wie Bron oder Daario, die von Berufs wegen, also lozierend, Gewalt ausüben, durchaus ihre autotelische Freude am Töten zu haben. Gleiches gilt für die psychische Gewalt von Petyr „Littlefinger“ Baelish oder Cersei Lannister. Gregor Gleganes Vergewaltigungen stellen raptive Gewalt dar, sind aber auch Mittel der Kriegsführung, also lozierend.
Viele Formen der Gewalt können wir als Zuschauer verzeihen. Teils, weil wir die Motivation legitim oder zumindest nachvollziehbar finden. Teils, weil wir akzeptieren, dass in einer brutalen Welt, wie der von Game of Thrones, nunmal anders hingelangt wird. Und oft genug ersehen wir sogar den gewaltsamen Tod eines ungeliebten Charakters („Joffrey, Cersei, Ilyn Payne, the Hound…“).
 Ramsey aber ist uns zu viel, denn er verkörpert alle drei Formen der Gewalt in Reinform und zwingt uns, dabei zuzusehen. Kann Gewalt kälter, instrumenteller, lozierender sein, als den eigenen Vater umzubringen, die Stiefmutter und den neugeborenen Halbbruder an die Hunde zu verfüttern, nur um den Vater zu beerben? Warum die Vergewaltigung Sansas, wenn nicht aus rein sexuellem, raptivem Motiv? Und wann war Gewalt autotelischer, als Theons nicht enden wollendes Martyrium?
Vielleicht hassten wir Ramsey auch deshalb so, weil uns durch ihn bewusst wurde, wie viel Gewalt wir in Game of Thrones immer wieder hinnehmen. Und vielleicht ist Ramsey nicht einmal der einzige ist, der daran seinen Spaß hatte.  
*Reemtsma, J. P. (2008): Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburger Edition HIS, Hamburg.
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