You – Du wirst mich lieben: Joe

Leute sind schon irgendwie ´ne Enttäuschung. Du auch, Beck, du auch?“ 
Dieser Satz von Joe, dem Protagonisten der Netflix-Serie You – Du wirst mich lieben lässt bereits nach 4:59 Minuten der ersten Folge tief blicken. Hier ist jemand offenbar so tief und global von seiner sozialen Umwelt enttäuscht, dass es ihm als absolute Ausnahme erscheint, auf jemanden zu treffen, der keine Enttäuschung darstellt. Entsprechend wird die Möglichkeit einer solchen Begegnung idealisiert überhöht. 
Die Überzeugung grundsätzlich besonders oder einzigartig zu sein und auch nur von den wenigen anderen besonderen oder bedeutsamen Menschen verstanden zu werden und verkehren zu können, ist ein Kernmerkmal narzisstischer Persönlichkeitsstörungen (ICD-10: F60.80). Ebenso wie Phantasien idealer und grenzenloser Liebe, ein Mangel an Empathie und eine Tendenz zu ausbeuterischem Verhalten in zwischenmenschlichen Beziehungen. 
Joe weist also deutliche narzisstisch gestörte Züge auf. Die Frage, ob er da klinische Vollbild einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung bei ihm erfüllt ist, ist ein Grenzfall und für das Verständnis seines Verhaltens von untergeordneter Wichtigkeit, weshalb ich sie hier nicht weiter diskutieren will. 
Viel relevanter scheint Joes Bindungsstörung zu sein. Diese ist keine Diagnose nach ICD-10, sondern vielmehr ein grundlegendes, tief in der Persönlichkeit verankertes Erlebens- und Verhaltensmuster, dass verschiedenen pathologischen Verhaltensweisen zugrunde liegen kann. Joes gestörter Bindungsstil wird alsunsicher-ambivalent bezeichnet. Er hat von Beginn seines Lebens an erlebt, dass er sich auf wichtige Bezugspersonen nicht verlassen kann. Entweder wurde er im Stich gelassen, oder gar misshandelt. 
Dass er die Hoffnung auf Liebe nicht vollständig verloren hat, liegt an der Begegnung mit der ersten Person, die sich seiner angenommen hat: Mr. Mooney. Leider war Mr. Mooney ein autoritärer und jähzorniger Mann, der von Joe absoluten Gehorsam und uneingeschränkten Zuspruch erwartet und diese auch mit psychischer und physischer Gewalt erzwungen hat. 
Joes prägende Beziehungserfahrungen legen ihm also nahe, dass die meisten Beziehungen enttäuschend sind, während das seltene Glück einer stabilen, Orientierung und Zugehörigkeit bietenden Beziehung mit absoluter Unterwerfung und Selbstaufgabe bezahlt werden muss. Folglich bleibt seine Vorstellung von Liebe davon geprägt, dass man sich dem anderen entweder uneingeschränkt und grenzenlos hingibt, oder die Beziehung eben gar keinen Wert hat. 
Dass die meisten anderen Menschen, trotz eines vorhandenen Wunsches nach verlässlichen Beziehungen, Wert auf ihre individuelle Freiheit legen, kann sich Joe nur so erklären, dass sie, im Gegensatz zu ihm, die Falschheit und Brüchigkeit der meisten Beziehungen noch nicht durchschaut haben und den Wert bedingungsloser Selbstaufgabe daher nicht erkennen. Es ist folglich seine Pflicht, den Menschen, den er liebt, zu seinem Glück – der perfekten, exklusiven, ewigen Liebe – zu zwingen, so wie er von Mr. Mooney zu seinem Glück gezwungen wurde. 
Weiterlesen

Dogs of Berlin: Autoritarismus

Die noch kleine, aber wachsende Kategorie „Erstklassige deutsche Serien“ ist mit Dogs of Berlin wieder ein bisschen größer geworden. Das ganze Setting hat bei mir angenehme Erinnerungen an The Shield aufkommen lassen: Alle böse, alle korrupt, aber doch irgendwie menschlich und liebenswert. 
Im Zentrum steht – wie in fast jeder Copstory – die Beziehung zweier vermeintlich ungleicher Polizisten: Da ist auf der einen Seite der idealistische, homosexuelle Deutsch-Türke Erol, auf der anderen Seite der korrupte und spielsüchtige Weiberheld und Ex-Neonazi Kurt. Wie soll das gut gehen? Es geht natürlich gut. Auf der Handlungsebene können die beiden Kompromisse schließen – eine wichtige Fähigkeit in gelingenden Beziehungen. Kurt beginnt seinen Partner und die Polizeiarbeit an sich zumindest ein bisschen ernster zu nehmen, dafür lässt sich Erol ein wenig auf Kurts illegale Methoden ein – „Der Zweck heiligt die Mittel.“ 
Aber auch psychologisch passen die beiden scheinbar so verschiedenen Berliner Cops gar nicht so schlecht zusammen. Denn beide sind auf ihre eigene Weise Individualisten, die eher nach ihren eigenen Bedürfnissen und Werten leben, als sich Autoritäten und subkulturellen Normen zu unterwerfen. Erol lebt offen homosexuell und unreligiös, was im Widerspruch zu den Wertvorstellungen seiner Herkunftsfamilie und vermutlich weiten Teilen seiner Herkunftscommunity steht. Darüber hinaus ist er Polizist geworden – sogar ein ehrlicher – was in seinen eigenen Worten „für einen Kanacken aus Kaiserwarte“ einen weiteren Tabubruch darstellt. Kurt hat der Neonaziideologie seiner Familie den Rücken gekehrt hat sich – wohl tatsächlich aus Überzeugung – der Polizei angeschlossen, wobei er sich auch in deren hierarchischer Struktur nur mit Mühe zurechtfindet. Auch Erol ist bei der Polizei als schwuler Türke immernoch ein Fremder unter Gleichen. Beide bewegen sich eher zwischen den Welten, als sich vollständig den Normen eines einzigen Systems unterzuordnen. Sie spüren die Zerrissenheit und innere Konfliktspannung ihrer vielfältigen Persönlichkeitsanteile und soziokulturellen Identitäten. Das ist zwar sowohl für Erol und Kurt selbst, als auch und besonders für ihre sozialen Umfelder, oft höchst anstrengend, psychologisch gesehen aber ein durchaus reifer Umgang mit der Vielfalt und oft auch Widersprüchlichkeit, die der menschlichen Persönlichkeit grundsätzlich eigen ist. 
Deutlich erkennbar wird diese relative Reife, wenn man sich das Gegenteil, also die Reduktion der Komplexität der eigenen Persönlichkeit zugunsten eines einzelnen, vermeintlich eindeutigen und somit auf der bewussten Ebene weniger konflikthaften Persönlichkeitsentwurfs vor Augen führt. Hierfür finden wir in Dogs of Berlin zahlreiche Beispiele. Viele der Protagonisten flüchten sich vor der anstrengenden Herausforderung einer Auseinandersetzung mit den Facetten der eigenen Persönlichkeit in die Unterwerfung unter die Normen hierarchischer, teilweise autoritärer Systeme. 
Hierin wiederum sind sich viele der Figuren in Dogs of Berlin, welche ebenfalls auf den ersten Blick maximal unterschiedlich wirken, sehr ähnlich. Von den autoritär geführten kriminellen Clans, inklusive der Neonazi-Kameradschaft, über die streng hierarchische Polizei und den hinterzimmerdiktatorischen Fußballbund, bis hin zu der Rockergang, die irgendwie für Freiheit stehen soll, aber auch nur ein autoritär geführtes kriminelles Unternehmen ist (vgl. Sons of Anarchy) – all diese Institutionen fordern zwar die vollständige Unterordnung individueller Bedürfnisse und Meinungen, bieten dafür aber maximale Orientierung durch unhinterfragte Regeln und Normen und eine klar definierte soziale Rolle, die im jeweiligen Kontext über jeden Zweifel erhaben ist. 
Den grundsätzlichen inneren Konflikt zwischen dem Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und Individualität vs. dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Geborgenheit muss jeder Mensch sein ganzes Leben lang immer wieder neu für sich lösen. Menschen, die eine hohe Bereitschaft, bzw. ein großes Bedürfnis haben, sich autoritären Systemen unterzuordnen, um hierin Sinn und Orientierung zu finden, sind in der psychologischen Forschung als „autoritäre Charaktere“, die entsprechende Persönlichkeitseigenschaft als Autoritarismus, bezeichnet worden. Der Begriff wird v.a. Theodor W. Adorno zugeschrieben, wobei zumindest am Rande darauf hingewiesen werden soll, dass dieser bereits auf Arbeiten des großen Psychologen Erich Fromm aufgebaut hat. 
Autoritarismus wird nach heutigem Verständnis durch die drei Komponenten Konventionalismus, Autoritäre Unterwürfigkeit und Autoritäre Aggression definiert. 
Konventionalismus bezeichnet das zwanghafte Bestehen auf traditionellen Normen und Regeln, auch ohne rationale Argumente („Das war schon immer so, also kann es so falsch ja nicht sein“ oder auch „das hätte es früher nicht gegeben“). Konventionalisten mögen Begriffe wie Leitkultur, Vaterland, Tradition und Familienehre. Der Tarik-Amir-Clan beruft sich ständig auf die Familienehre und Familientradition, obwohl innerhalb der Familie ziemlich unehrenhaft miteinander umgegangen wird. Die Neonazis der Kameraden Mahrzahn fantasieren von einer glorreichen deutschen Vergangenheit, die keiner von ihnen je erlebt hat und die es nie gab, in der aber dennoch alles besser gewesen sein soll. 
Autoritäre Unterwürfigkeit meint die Bereitschaft, sich autoritären Strukturen, bevorzugt einzelnen charismatischen und als durchsetzungsstark, klug und selbstsicher wahrgenommenen Führungspersönlichkeiten, kompromisslos unterzuordnen. Sie sind der Meinung, dass es „starke Anführer“ braucht, die „auch mal auf den Tisch hauen“ um „für Ordnung und Sicherheit zu sorgen“. Sowohl im kriminellen Clan, wie auch in Polizei und Fußballbund, kommt man zunächst nur voran, wenn man sich den Höhergestellten unterwirft und eigene, abweichende Meinungen möglichst zurückhält. Dass Führungswechsel in diesen Systemen selten friedlich, sondern meist durch Intrige und Putsch vollzogen werden können, ist eine eigentlich absehbare Folge der fehlenden Meinungsvielfalt und -konkurrenz.  
Autoritäre Aggression schließlich stellt das auf die anderen gerichtete Pendant zur autoritären Unterwürfigkeit dar. Sie fordert denselben blinden Gehorsam und dieselbe widerspruchslose Unterordnung unter die eigenen Regeln und Normen von allen anderen ein und richtet sich aggressiv gegen Abweichungen und Andersdenkende, gegen sie „mit aller Härte“ vorgegangen werden soll. Nazis, Gangster und Rocker unterscheiden sich kaum in der Brutalität mit der sie gegen Andersdenkende innerhalb und außerhalb der eigenen Reihen vorgehen (obwohl die Eierspeise der Nazis schon besonders hervorsticht). Aber auch Polizisten und Fußballfunktionäre greifen unter Umständen zu drastischen Methoden. 
Erich Fromm hat den Autoritarismus als unreife Reaktion auf die Überforderung des Individuums angesichts der potentiellen Vielfalt und Freiheit in der Welt gesehen. Der gesellschaftliche Fortschritt bietet eben nicht nur Möglichkeiten, sondern formuliert auch neue Anforderungen. Der intelligente Kurt schafft es halbwegs, sich in der großen weiten Welt (Berlins) zurechtzufinden – sein weniger begabter Bruder Ulf und dessen Intelligenzgenossen fühlen sich sicherer in einer Welt, in der man außer Deutschsein gar nichts können muss. Der mutige Erol wagt sich aus der Enge seines traditionell muslimisch geprägten Elternhauses in die berufliche und sexuelle Selbstbestimmtheit vor – mit allen Hindernissen, Rückschlägen und Verletzungen, die das mit sich bringt. Viele der Jungs aus Kaiserwarte schrecken davor zurück und begnügen sich mit dem bisschen Ehre, dass es als genügsames Zahnrad im Getriebe des Tarik-Amir-Clans zu gewinnen gibt. 
Und im Plattenbau in Mahrzahn sitzt ein Mann, der in dem Glauben das Richtige zu tun, im Militär immer nach den Regeln gespielt hat und der jetzt fassungslos mitansehen muss, wie die Welt ihn zurücklässt. Gegen diese neue Welt richtet sich seine autoritäre Aggression und als dann ein Nationalfußballer mit Migrationshintergrund seinen Hund widerrechtlich auf den Rasen kacken lässt, ist das Maß voll…

Weiterlesen

Babylon Berlin: Gereon und die Hypnose

Um es gleich klarzustellen, ich fand Babylon Berlin großartig. Stimmt schon, am Anfang wähnt man sich kurz in einer dieser ungelenken Schauspielszenen einer ZDF-Historiendokumentation, aber ich glaube, dass ist nur eine Frage der Gewohnheit, denn bereits nach ein, zwei Folgen, entwickelt die spannende Geschichte mit ihren vielen interessanten und zum Teil psychologisch komplexen Figuren ihren Reiz und ließ zumindest mich nicht mehr los. Den Kritikpunkt, dass nicht alles historisch korrekt ist, finde ich irrelevant, da es sich ja nunmal nicht um eine Dokumentation handelt – und inwieweit die Darstellungen in House of Cards, Vikings oder Mindhuntervollständig mit der Realität korrespondieren, interessiert ja auch die wenigsten. Zudem scheint einiges doch auch recht realitätsnah dargestellt zu sein, zumindest wenn man dem sehr interessanten Podcast von Radio Eins 1929 -Das Jahr Babylon glauben darf.

Alles beginnt – wie damals bei den Sopranos – mit einer Psychotherapieszene. Gereon Rath lässt sich hypnotisieren – eine damals gängige Behandlungstechnik bei nervösen Leiden. Hypnotische Trance bezeichnet – entgegen mystifizierenden populärwissenschaftlichen Klischees – einfach einen Zustand der entspannten Fokussierung, das heißt, durch die Konzentration auf bestimmte Reize (Körperwahrnehmungen, die Stimme des Hypnotisieurs, einen sich bewegenden Finger oder ein Pendel etc.) findet eine zunehmende Ausblendung der Vielzahl anderer Reize und Gedanken statt, wodurch innere Ruhe und eine gelassene und dafür umso konzentriertere Fokussierung auf bestimmte Themen, Gedanken, Erinnerungen etc. möglich wird. Für die heutige Psychotherapie hat die Hypnose besondere Bedeutung, nicht weil sie heute noch breit angewendet würde – sie führt eher ein Nischendasein im Rahmen der Richtlinienpsychotherapie – sondern weil sie sozusagen den historischen Vorläufer der uns heute bekannten Psychotherapie darstellt. 
Im späten neunzehnten Jahrhundert, als es noch keine Psychotherapie, wie wir sie heute kennen, gab, wurde die damals im Bürgertum vermehrt auftretende Hysterie (eine damals noch unscharf definierte Bezeichnung für eine Vielzahl psychopathologischer Symptome, wie z.B. emotionale Instabilität, psychogene Krampfanfälle, Dissoziation, Panik usw.) von einigen, als progressiv geltenden, Ärzten durch Hypnose zu behandeln versucht. Ein populärer und international angesehener Protagonist dieser Bewegung war der Pariser Arzt Jean-Martin Charcot (Wikipedia), dessen eindrückliche Behandlungserfolge, oft vor Medizinstudenten und internationalen Kollegen, zwar ebenso wie heutige Showhypnosen einen erheblichen Anteil an Charisma, Showtalent und Suggestibilität der Proband*innen/Patient*innen enthielten, aber dennoch die Hoffnung auf Behandlungsmöglichkeiten psychischer Leidenszustände jenseits von Kältebädern, Lobotomien und anderen mehr oder weniger grausamen Therapien nährten. 
Zwei Bewunderer Charcots in dieser Zeit waren der Wiener Arzt Josef Breuer und sein junger, wissbegieriger Kollege Sigmund Freud. Letzterer reiste gar nach Paris und zeigte sich beeindruckt von Charcots Fallvorführungen. Breuer und Freud begannen ihrerseits die – vor allem, aber nicht nur – Damen der besseren Wiener Gesellschaft im Falle von Hysterie und anderer seelischer Leiden mit Hypnose zu behandeln und hatten damit nicht selten Erfolg, was den Glauben an die Methode zunächst stärkte. Bis schließlich Dr. Breuer die Entdeckung machte, die den Grundstein für die moderne Psychotherapie legen sollte. Er stellte fest, dass auch ohne einer zuvor induzierte hypnotische Trance ein zugewandtes, vertrautes, einfühlsames Gespräch mit der Patientin über Inhalte welche diese als belastend oder beschämend erlebte, zur Reduktion der Symptomatik führte und dass sich dieser Effekt durch wiederholte Gespräche ausbauen und stabilisieren ließ. Heureka! – Die sogenannte „Redekur“ war geboren. Josef Breuer und Sigmund Freud gaben die „Studien über Hysterie“ heraus und begründeten damit die sprechende Psychotherapie. Der Rest ist Geschichte und die Psychotherapie gut hundert Jahre später eine unverzichtbare, vielfältige, evidenzbasierte und noch wie am ersten Tag faszinierende Behandlungsmethode. 
Der Wirkmechanismus der Psychotherapie erschöpft sich allerdings nicht in der beschriebenen zugewandten, offenen, haltgebenden und wertschätzenden Haltung – dem sog. Primärprozess. Sonst wäre Psychotherapie nichts anderes, als eine gute Freundschaft oder Elternbeziehung. Um Psychotherapie wirksam zu machen, bedarf es zusätzlich, gleichsam auf der Basis eines stabilen Primärprozesses, der aktiven Spiegelung, wohlwollenden Konfrontation und Aufforderung zur kritischen Reflektion des Erlebten – des sog. Sekundärprozesses. Seriöse, wissenschaftlich fundierte Psychotherapien zeichnen sich gerade durch die Kombination, das gegenseitige Sich-Bedingen von Primär- und Sekundärprozess aus. Die Unzulänglichkeit von Methoden, die nur auf einen der beiden Prozesse abzielen, liegt auf der Hand. 
Ein Primärprozess ohne Sekundärprozess, also eine perfekt positive Beziehung ohne kritische Reflektion, kann zwar dazu führen, dass sich die Patient*in aufgehoben und verstanden und dadurch zunächst besser fühlt. Es unterbleibt jedoch die notwendige persönliche Weiterentwicklung und auch die Reflektion der therapeutischen Beziehung selbst, so dass es nicht die durch die Therapie angestoßene Entwicklung, sondern die regelmäßigen therapeutischen Gespräche selbst sind, die so gut tun. So kann es zur Idealisierung der Therapeut*in kommen und die Patient*in in eine emotionale Abhängigkeit geraten. Die eigenen Entwicklungspotentiale und auch die oft notwendige Arbeit an wichtigen Beziehungen außerhalb der Therapie können dadurch blockiert werden, was die Angst vor dem letztlich unvermeidlichen Ende der Therapie verstärkt und im Bereich der pseudowissenschaftlichen Psychotherapieszene mitunter zu jahrelangen, letztlich ausbeuterischen „Therapien“ auf Selbstzahlerbasis führt. 
Im umgekehrten Fall, also der rein kognitiv-rationalen Reflektion und Erarbeitung von Lösungsansätzen (Sekundärprozess), ohne den Aufbau und die sorgfältige Pflege einer empathischen, die authentische, tiefgehende Selbstöffnung fördernden Beziehung (Primärprozess), lassen sich durchaus Probleme lösen, z.B. das eigene Zeitmanagement verbessern, oder eine Strategie für Verhandlungen planen usw.. Die tiefen, oft unbewussten inneren Konflikte, welche die Umsetzung der vermeintlich einfachen oder klaren Lösungen im Alltag eben oft verhindern, werden jedoch nicht erreicht und die für die Lösung wirklich komplexer, widersprüchlicher, tief scham- und schuldbehafteter Probleme Weiterentwicklung der Persönlichkeit findet nicht statt. Darin besteht der Unterschied zwischen Angeboten aus dem Coaching- und Beratungsspektrum und der Psychotherapie als Heilbehandlung.
Auch im Hinblick auf die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen ist, ausgehend von Freuds Arbeit, in den letzten hundert Jahren viel vorangegangen, auch wenn nach wie vor viel zu tun bleibt (Hierzu lohnt immer wieder ein Blick auf das Betroffenenforum themighty.com). Davor, und eben auch noch in den neunzehnhundertzwanziger Jahren, um damit wieder zum eigentlichen Thema Babylon Berlin zurückzukehren, hatten es psychisch Kranke oft noch viel schwerer, als dieser Tage – zumindest in Deutschland (was es übrigens derzeit wieder zu verteidigen gilt!).
Deshalb muss Gereon Rath heimlich zur Hypnose gehen und setzt zunächst alles daran, seine Krankheit, die damals als Kriegszittern bezeichnet wurde, geheim zu halten, um in der rauen Welt der Berliner Polizei nicht als schwach oder feige wahrgenommen zu werden. Bei den sogenannten Kriegszitterern, oder auch Schüttelneurotikern, oder Flattermännern, wie es Kollege Wolter wenig einfühlsam ausdrückt, handelte es sich überwiegend um vom ersten Weltkrieg traumatisierte Heimkehrer mit dem Krankheitsbild, das wir heute als posttraumatische Belastungsstörung bezeichnen (Eine auführliche Beschreibung dieses Krankheitsbildes findet sich im Beitrag über Rambo). Wirklich anerkannt wurde diese gravierende mögliche Folge von Kriegseinsätzen erst nach dem Vietnamkrieg. 
Heute stehen zum Glück elaborierte psychotherapeutische Behandlungsmethoden zur Verfügung, während Gereon sich noch mit Hypnose und Morphin, welches durch die sedierende Wirkung das Zittern und die Panik reduziert, aber eben auch ein hohes Suchtpotenzial hat, behelfen musste. Das Zittern ist letztlich eine körperliche Manifestation der panischen Angst, welche die Betroffenen infolge von auslösenden, an die traumatische Situation erinnernden Reizen, sog. Triggern (z.B. einen Pistolenschuss), erleben. Physiologisch werden bei Angst unter anderem Herzfrequenz, Atemgeschwindigkeit und Muskelspannung erhöht, um Energie zum Kämpfen oder Fliehen (das sog. Fight-or-Flight-Syndrom) zur Verfügung zu stellen. Da diese Energie in der Lebenswelt des modernen Menschen selten in der dafür vorgesehenen Weise abgebaut werden kann (bzw. es Gereon ja überraschend gut zu gehen scheint, wenn er tatsächlich kämpfen oder fliehen muss), kommt es zur physischen Übererregung und dem Abbau der Anspannung in Form des unwillkürlichen Zitterns.
Mir würde zu Babylon Berlin noch mehr einfallen, aber da ich heute offenbar Probleme habe, bei der Sache zu bleiben, soll es das erstmal gewesen sein.

Mehr zu Babylon Berlin gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast zu hören!

Weiterlesen

Sharp Objects: Adora

Schön, wenn eine Film- bzw. Serienadaptation ihrer Buchvorlage gerecht wird! Im Falle der HBO-Serie (in Deutschland bei Sky zu sehen) Sharp Objects, basierend auf dem gleichnamigen (in Deutschland als „Scharfe Schnitte“ oder „Cry Baby“ erhältlichen) Roman der großartigen Psychothriller-Autorin Gillian Flynn, ist das vollständig gelungen. Die Serie ist, ebenso wie das Buch, wunderbar düster, makaber, unheimlich, spannend, schockierend, grausam und traurig. 
Die Königin und heimliche Hauptfigur dieser düsteren Familiendystopie ist Adora, die Königin von Windgap. Schon bevor wir von den tödlichen Auswirkungen ihrer Fürsorge erfahren, lässt uns ihr Umgang mit ihren Kindern erschaudern. Dramatische Inszenierungen und Selbstbeschreibungen als grenzenlos liebende und bedingungslos aufopfernde Mutter, stehen einer erschreckenden Empathielosigkeit und erbarmungsloser Manipulation durch Vorwürfe, Schuldgefühle, Moralisierung und Invalidierung (Missachten, Verneinen oder Verdrehen von Wahrnehmungen, Bedürfnissen oder Gefühlen) ihrer Kinder gegenüber. 
Den Kindern wird, entgegen Adoras Beteuerung, die wahrscheinlich tatsächlich ihr verzerrtes Selbstbild wiedergeben, vermittelt, dass ihr einziger Daseinszweck darin besteht, die Erwartungen ihrer Mutter zu erfüllen und auf diese Weise für deren Glück oder Unglück gleichsam alleine verantwortlich zu sein. In der Sprache der Psychoanalyse werden die Kinder von Adora zu Selbstobjekten gemacht, die nicht als eigenständige Individuen, sondern nur für die Erhaltung bzw. Erhöhung des eigenen Selbstwertgefühls von Interesse sind. 
Dieses Erziehungsverhalten führt zu den massiven Problemen beider noch lebender Töchter im Bezug auf die Regulation des eigenen Selbstwertgefühls (bei Camille in Form eines phasenweise extrem negativen Selbstbildes, bei Emma in Form eines krankhaften Narzissmus, der keine Konkurrenz, keine Widersprüche und keine Empathie erlaubt) und der eigenen Emotionen, welche nicht adäquat geäußert und verarbeitet werden können und sich in der Folge immer wieder impulsiv, ohne ausreichende Beachtung der Konsequenzen, ausagiert werden müssen, z.B. in Suchtmittelmissbrauch, Selbstverletzung oder Mord. 
Tatsächlich haben Kinder psychisch kranker Eltern (in Deutschland etwa jedes vierte Kind und 18 Jahren) ein drei- bis viermal höheres Risiko, selbst psychisch zu erkranken. (Zur oft beklemmenden und verstörenden Lebenssituation von Kindern schwer psychisch kranker Eltern, empfehle ich den auf Youtube frei zugänglichen Kurzfilm Lilli). 
Allerdings gehört zum vollständigen Bild auch, dass die überwiegende Mehrheit psychisch erkrankter Eltern mit der eigenen Erkrankung verantwortungsvoll und transparent umgehen und genauso gute Eltern sind, wie psychisch Gesunde und dass es eine Vielzahl von Risiko- und Bedingungsfaktoren psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen gibt, so dass sich hier vorschnelle, eindimensionale Rückschlüsse verbieten. 
Jedenfalls leidet Adora, die selbst als Kind offenbar emotionalen Missbrauch erlebt hat, in der Folge unter einer histrionischen Persönlichkeitsstörung, welche sich nach ICD-10 (F60.4) durch mindestens vier der Folgenden zeit- und situationsübergreifenden Merkmale definiert: 
  • Dramatische Selbstdarstellung, theatralisches Auftreten oder übertriebener Ausdruck von Gefühlen
  • Suggestibilität, leichte Beeinflussbarkeit durch Andere oder durch Ereignisse (Umstände)
  • oberflächliche, labile Affekte
  • ständige Suche nach aufregenden Erlebnissen und Aktivitäten, in denen die Betreffenden im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen
  • unangemessen verführerisch in Erscheinung und Verhalten
  • übermäßige Beschäftigung damit, äußerlich attraktiv zu erscheinen
Egozentrik, Selbstbezogenheit, dauerndes Verlangen nach Anerkennung, fehlende Bezugnahme auf andere, leichte Verletzbarkeit der Gefühle und andauerndes manipulatives Verhalten treten nicht selten begleitend auf, sind aber für die Diagnose nicht erforderlich. 
Adoras massives Bedürfnis nach dramatischer Selbstdarstellung, in diesem Fall als fürsorglich aufopfernde Mutter, in Kombination mit ihrer Unfähigkeit, sich tatsächlich warmherzig und empathisch auf andere Menschen einzulassen und sich diesen zu öffnen, führen zu einer weiteren Störung, dem sogenannten Münchhausen by proxy– bzw. Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, einer Spezialform des Münchhausen-Syndroms, welches in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F68.1) unter der Bezeichnung Artifizielle Störung als das „absichtliche Erzeugen oder Vortäuschen von körperlichen oder psychischen Symptomen oder Behinderungen“ definiert wird. Während beim Münchhausen-Syndrom Symptome durch Simulation oder Schädigung beim Betroffenen selbst erzeugt werden, häufig mit der unbewussten Motivation, sich Zuwendung und Versorgung durch andere Personen zu sichern, werden diese beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom bei einer anderen Person, oft den eigenen Kindern, herbeigeführt, um selbst eine versorgende und damit moralisch und bezüglich des eigenen Selbstwerts höherwertige Position einnehmen zu können. 
Das Münchhausen-Syndrom gilt als eine der psychischen Störungen mit der höchsten Dunkelziffer. Schätzungen gehen jedoch davon aus, dass Opfer einer Person mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom in fünf bis 35% der Fälle an den Folgen sterben. 
In der Vorgeschichte von Personen mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom findet sich nicht selten selbstverletzendes Verhalten, so auch bei Adora, die sich in Situationen erhöhter emotionaler Anspannung die Wimpern ausreißt, anstatt ihre Emotionen angemessen zulassen, ausdrücken und verarbeiten zu können. 
So ist Sharp Objects in erster Linie ein, in den Auswirkungen sicherlich extremes, aber in den Mechanismen der transgenerationalen Bindungsstörungen beängstigend nachvollziehbares Familiendrama, das zum Besten gehört, was es derzeit zu sehen gibt. 
*Mehr zu Sharp Objects gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast.
Weiterlesen

Mindhunter

Als mir vor einigen Monaten ein Leser die Netflix-Serie Mindhunter empfahl, hatte ich nur den Trailer gesehen und erst einmal Desinteresse bekundet, da mir das ganze schien, wie die typische „FBI jagt durchgeknallten Psychokiller“-Geschichte. Das Problem mit dieser Art von Geschichten ist die so oberflächliche wie unhinterfragte Gleichsetzung von „Psycho“ (also dem Hinweis auf psychische Krankheit) und „Killer“ (also Kriminalität). 

Dahinter verbirgt sich ein gesellschaftlicher Abwehrmechanismus, der alles was zu unangenehm ist, gerne in den Bereich des pathologischen abschiebt, wie eben auch den Gedanken, dass dieses Unangenehme etwas mit uns selbst zu tun haben könnte. Wenn ein unvorstellbar brutales Verbrechen geschieht, ist der Gedanke, dass so etwas jederzeit und überall durch einen nach Außen hin unauffälligen Mitmenschen geschehen könnte, schwerer zu ertragen, als das Narrativ vom durch und durch gestörten „Psychopathen“, denn letzterer ist wenigstens selten und verkehrt irgendwo, aber sicher nicht in unserem näheren Umfeld. Der „Psychopath“ ist von Grund auf so gestört, dass ihn mit uns selbst scheinbar gar nichts mehr verbindet, so dass sich auch die Fragen nach gesellschaftlichen Ursachen für kriminelles oder sonstwie abweichendes Verhalten und nach Präventionsmöglichkeiten nicht stellen. 
Diese Fragen sind anstrengend. Erstens, weil sie komplex und schwierig zu beantworten sind und zweitens, weil die Antworten, die ggf. doch gefunden werden, mit gesellschaftlichen Veränderungen zu tun haben, die ihrerseits noch anstrengender sein könnten. Deshalb ist neben dem „Psychopathen“ auch der „islamistische Terrorist“ als Täter beliebt, weil er – völlig fanatisch und verwirrt – ebenso außerhalb unserer Alltagswelt zu stehen scheint. 
Dieser Abwehrmechanismus nennt sich Projektion: Gefühle oder Fakten, die für uns unangenehm sind, weil sie mit unserem persönlichen oder gesellschaftlichen Selbstverständnis schwer vereinbar wären, werden auf andere projiziert, also diesen zugeschrieben. Diejenigen werden dann möglichst weit ausgegrenzt um mit der Distanz zu ihnen auch Distanz zu den unangenehmen Gefühlen und Gedanken herzustellen und uns selbst wieder sicher sein zu können, das mit uns selbst alles in bester Ordnung ist: „Gewalt und Sexismus sind das Problem junger Zuwanderer – deshalb gehören die ja auch nicht hierher. Frauen, die von treusorgenden Familienvätern vergewaltigt werden, waren früher Hexen und mussten verbrannt werden – heute sind sie zumindest ein bisschen selbst schuld, also Schlampen, und müssen mindestens solange geächtet werden, wie sie zu kurze Röcke tragen. Donald Trump ist halt ein Narzisst, wenn er abgewählt oder impeacht wird, ist alles wieder gut.“ Usw., usf.

Der junge Agent Holden Ford ist da schon weiter und stellt sich die Frage, was es über eine Gesellschaft aussagt, wenn sie immer mehr grausame Serienmörder hervorbringt. Er erkennt, wie sehr die eindimensionale, von Projektionen und Rationalisierungen („weil nicht sein kann, was nicht sein darf“) überlagerte Sichtweise auf bestimmte, von irrationalen Motiven getriebene Serienverbecher, der Aufklärung der Verbrechen im Wege steht. Indem er scheinbare Gewissheiten infrage stellt und sich für unkonventionelle Ideen und andere Disziplinen jenseits der zeitgenössischen Kriminologie öffnet, gelangt er zu Erkenntnissen, die uns heute selbstverständlich scheinen, aber in Wahrheit noch nicht einmal das sind (s.o.). In seinem spezifischen Forschungsgebiet lautet diese Erkenntnis: Verbrecher werden nicht geboren, sie werden gemacht! Allgemeiner formuliert: Jede individuelle Variante menschlichen Seins, Empfindens und Verhaltens ist das Ergebnis einer spezifischen Kombination aus genetischen, epigenetischen, psychologischen und sozialen (von familiären bis gesamtgesellschaftlichen) Faktoren.
Folglich entstehen auch psychische Störungen – wie z.B. die dissoziale Persönlichkeitsstörung, von welcher einige der in Mindhunter interviewten Mörder betroffen sind – durch das Zusammenwirken genetischer und epigenetischer Veranlagungen – welche die Entwicklung einer bestimmten Störung zwar wahrscheinlicher machen, aber noch nicht bedingten – mit sozialen Faktoren, wie z.B. Vernachlässigung, Missbrauch oder Misshandlung. Dieses Zusammenspiel wird im sogenannten Diathese-Stress-Modell (auch Vulnerabilitäts-Stress-Modell) beschrieben. Mit diesem Modell kann man sich die Entwicklung einer Krankheit etwa wie eine Treppe vorstellen, an derem oberen Ende der Ausbruch der Krankheit steht. Die durch genetische und epigenetische Faktoren bedingte Veranlagung (Diathese) bestimmt sozusagen das Ausgangsniveau. Wer bspw. mit einer hohen erblichen Vorbelastung geboren wird, befindet sich bereits zu Beginn einige Stufen weiter oben. Nun kommen im Laufe des Lebens weitere pathogene (krankheitsfördernde) Faktoren (sog. Stressoren) hinzu, z.B. Vernachlässigung, Missbrauch, Misshandlung, oder in anderen Kontexten auch ein ungesunder Lebensstil, Umweltgifte etc., welche die betroffene Person jeweils weitere Treppenstufen nach oben steigen lassen. Werden auf diese Weise im Laufe der Zeit durch Diathese und Stressoren insgesamt genug – bzw. zu viele – Stufen erklommen, wird also der kritische Schwellenwert für die jeweilige Erkrankung erreich, kommt diese zum Ausbruch. 
Auf diese Weise lässt sich erklären, dass ähnliche Lebenserfahrungen bei einer Person z.B. zur Ausbildung einer dissozialen Persönlichkeitsstörung führen, bei der anderen nicht. Aber auch, dass Menschen mit ähnlicher genetischer Veranlagung (z.B. Geschwister oder gar Zwillinge) sich psychisch und gesundheitlich ganz unterschiedlich entwickeln können. Die große Erkenntnis Holden Fords, die auch für die Psychotherapie und die Präventionsarbeit, ob im Gesundheits- oder Kriminalitätsbereich, sowie wahrscheinlich für die meisten anderen Felder der Beschäftigung mit Menschen, gilt, ist, dass es der sorgfältigen, differenzierten und unvoreingenommenen Betrachtung des einzelnen Individuums bedarf, um wirklich zu verstehen. Offenbar trifft das manchmal auch auf Fernsehserien zu. Ich muss also Abbitte leisten. Mindhunter ist spannend und befriedigt unser Bedürfnis nach Thrill durch die Konfrontation mit dem Grausamen und Bösen – macht dabei aber gerade nicht den Fehler, dieses zu trivialisieren und in den Bereich des im wörtlichen Sinne „un-menschlichen“ zu verdrängen. 

Mehr zu Mindhunter gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast zu hören!
Weiterlesen

Haus des Geldes

Der aus Spanien stammende Netflix-Hit Haus des Geldes setzt mehr auf Spannung und Action, als auf psychologische Tiefe. Trotzdem tummeln sich unter den roten Kapuzen und Dali-Masken einige interessante Charaktere.
Da ist zunächst mal die Ich-Erzählerin Tokio, eine wilde, impulsive Frau, die, wie sie selbst sagt, nichts mehr zu verlieren hat – über die wir allerdings schnell erfahren, dass sie sich auch zuvor schon bereitwillig in gefährliche Situationen begeben hat. Dieser Wagemut, die Risikobereitschaft, die Tokio gefährliche Situationen nicht nur in Kauf nehmen, sondern regelrecht aufsuchen lässt, zeichnen Tokio vor allem anderen aus. Psychologen nennen diesen Charakterzug Sensation Seeking. Das ist keine psychische Störung, sondern einfach nur eine Verhaltenstendenz, die bei manchen Menschen stärker ausgeprägt ist, als bei anderen.
Sensation Seeking ist als die Kombination von vier Motiven bzw. Eigenschaften definiert:
  • Suche nach Spannung und Abenteuer durch riskante Aktivitäten wie z. B. Extremsport, schnelles Fahren oder auch Banküberfälle
  • Suche nach neuartigen, ungewohnten Erfahrungen, z.B. Reisen in ferne Länder, exotisches Essen oder auch sich von einem völlig Fremden für einen absurd riskanten Coup rekrutieren zu lassen
  • Tendenz zur Enthemmung, z. B. impulsives, unüberlegtes aggressives oder sexuelles Verhalten
  • Unfähigkeit, Monotonie oder Langeweile auszuhalten, z.B. statt erstmal unterzutauchen, mit dem Motorrad mitten durch ein schwer bewaffnetes Polizeiaufgebot zu rasen, nur um wieder dort mittendrin zu sein, wo die Musik spielt
Tokio hat ganz sicher ein sehr ausgeprägtes Sensation Seeking-Motiv. Vielleicht kommt das auch daher, dass sie als Kind viel zu Hause alleine war. Gefühle von Einsamkeit und vielleicht auch Sorge um ihre Mutter musste sie irgendwie aushalten, ohne Zuwendung oder die Möglichkeit sich mitzuteilen. Möglicherweise kann sie daher die bewusste Wahrnehmung ihrer Gefühle nicht so gut aushalten und muss für ständige Ablenkung durch Action sorgen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Tokios Verhalten so maladaptiv (d.h. ineffizient im Bezug auf dauerhafte Erfüllung ihrer Bedürfnisse bzw. sozialer Anforderungen) oder destruktiv ist, dass es als krankhaft einzuordnen wäre. Die pathologische Ausprägung des impulsiven, risikohaften und potentiell auch aggressiven Verhaltens Tokios wird als emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ (ICD-10: F60.30) bezeichnet. Für diese Diagnose müssen mindestens drei der folgenden Verhaltensweisen zeitstabil und situationsübergreifend auftreten:
  • Deutliche Tendenz, unerwartet und ohne Berücksichtigung der Konsequenzen zu handeln
  • Deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten mit anderen, vor allem dann, wenn impulsive Handlungen unterbunden oder getadelt werden
  • Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle explosiven Verhaltens
  • Schwierigkeiten in der Beibehaltung von Handlungen, die nicht unmittelbar belohnt werden
  • Unbeständige und launische Stimmung
Tokio erfüllt diese Kriterien überwiegend, was darauf hindeutet, dass sie nicht einfach nur ein Mensch ist, der intensive emotionale Erlebnisse und spannenden, neuartige Erfahrungen sucht, sondern dass ihre Impulsivität potentiell schädlich für sie und andere ist und eigentlich behandelt werden sollte. Tatsächlich bringt sie sowohl sich, als auch andere immer wieder in akute Lebensgefahr und riskiert mehrfach das Scheitern des Plans, indem sie impulsiv oder aus schlichter Langeweile gegen Regeln und Absprachen verstößt.
Ganz anders Moskau. Sein Sensation Seeking-Motiv ist, ganz im Gegensatz zu Tokios, recht gering ausgeprägt – zumindest für einen Kriminellen (einen gewissen Nervenkitzel scheint er schon auch zu schätzen zu wissen, sonst hätte er wohl nicht vom Minenarbeiter zum Safeknacker umgeschult). Eigentlich ist ihm der ganz Stress des Überfalls und der Geiselnahme zu viel, er möchte einfach nur, dass alles ungestört über die Bühne geht und er sich endlich zur Ruhe setzen kann, in dem beruhigenden Wissen, dass auch für seinen Sohn gesorgt ist. Auf Stress reagiert Moskau, wie auch zuvor schon auf die Enge in der Mine, mit Beklemmung, Atemnot, Herzrasen und Schwindel, die bis zur Ohnmacht gehen können. Kurz gesagt: Moskau hat Panikattacken. Hat ein Mensch wiederholt Panikattacken, auch ohne konkret nachvollziehbaren äußeren Auslöser, spricht man von einer Panikstörung (ICD-10: F41.0). Eine Panikattacke ist dabei definiert als einzelne Episode von intensiver Angst, die abrupt beginnt, innerhalb weniger Minuten ein Maximum erreicht, mindestens einige Minuten dauert und von Symptomen wie Herzrasen, Schweißausbrüche, Schwindel, Zittern, Mundtrockenheit, der Angst zu ersticken oder an einem Herzinfarkt zu sterben begleitet wird.
Herzensangelegenheiten, allerdings ganz anderer Art, stellen auch Monikas Problem dar. Sie verliebt sich in einen ihrer Geiselnehmer und erlebt somit die als Stockholm-Syndrom bekannt gewordenen, eigentlich paradoxen Gefühle (Es gibt übrigens noch eine Reihe weiterer Stadt-Syndrome: Hier eine amüsante, nicht ganz ernst zu nehmende Liste).
Das Stockholm-Syndrom wird v.a. damit erklärt, dass für Geiseln die Situation innerhalb der Geiselnahme so intensiv und bedrohlich ist, dass sich die Wahrnehmung voll und ganz auf diesen Kontext fokussiert. Dass außerhalb andere Regeln, Normen und Gewissheiten gelten, gerät in den Hintergrund. Auf dieser Basis können kleine Zuwendungen oder Vergünstigungen der Geiselnehmer eine relevante Verbesserung der Situation der Geisel bewirken, so dass diese Gefühle von Entlastung, Trost und in der Folge auch Dankbarkeit und ggf. sogar Liebe empfinden kann. Die Situation ist ein wenig vergleichbar mit der von Kindern, die auf das Wohlwollen ihrer Eltern in ebenso hohem, existenziellem Maße angewiesen sind und daher eine annähernd unverbrüchliche Liebe und Loyalität gegenüber den Eltern aufweisen, selbst wenn diese eigentlich unzulänglich, vernachlässigend oder gar misshandelnd sind. Wer vom Stockholm-Syndrom betroffen ist, empfindet also für einen gewissen Zeitraum von ihr/ihm als echt erlebte intensiv positive Gefühle von Zuneigung und Liebe. Darin unterscheiden sich Monikas von ihr als real empfundene Liebesgefühle gegenüber Denver von Ariadna, die Berlin ihre Liebe nur vorspielt, als bewusste Überlebensstrategie. Dabei ist es gerade Berlin, dessen Verhalten perfekt auf Entstehung solcher Gefühle abgestimmt ist, indem er einerseits seine absolute Macht gegenüber den Geiseln betont, dann aber mit Zuwendung und gespielter Empathie dazu einlädt, sich auf ihn zu verlassen und ihn als eine Art Retter oder Beschützer wahrzunehmen.
An Berlin scheiden sich ohnehin die Geister. In der Serie wird er in einem psychiatrischen Gutachten wie folgt beschrieben: „Ein Egozentrischer Narzisst der an Größenwahn leidet. Ein Exzentriker mit Tendenz zur Megalomanie, was ihn daran hindert, gut und böse zu unterscheiden. Seine Selbstliebe ist extrem und von da her ist es ihm ein großes Anliegen überall einen guten Eindruck zu machen, besonders bei Unbekannten“.
In dieser Beschreibung finden sich drei psychiatrische Buzzwords: Narzissmus, Größenwahn/Megalomanie und Dissozialität (Fehlende bzw. abweichende Gut/Böse-Differenzierung).
Für die Diagnose einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung müssen nach ICD-10 (F60.80) mindestens fünf der folgenden Kriterien zeitstabil und situationsübergreifend vorliegen:
  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit
  • Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe
  • Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen
  • Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten
Berlin hält zwar seine Rolle im Plan des Professors, nicht aber seine Person grundsätzlich für wichtiger oder einzigartiger als alle anderen – im Gegenteil, er ordnet sich sogar seinem kleinen Bruder unter und überlässt diesem die große Bühne. Bewunderung und bevorzugte Behandlung sind im nicht übermäßig wichtig und er kann mit Menschen jeden Status´ vernünftig interagieren – solange sie ich an seine Regeln halten. Seine Liebe zu Ariadna hat natürlich etwas übertriebene Züge vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sie ihn nicht liebt, aber ob das eine grundsätzliche Eigenschaft Berlins ist, lässt sich nicht erkennen. Seine offenbar massive Gekränktheit von Frauen im Allgemeinen, könnte jedoch auf enttäuschte narzisstische Erwartungen hinweisen. Er scheint nicht besonders mit dem Thema Neid befasst zu sein. Eine arrogante Grundhaltung lässt sich hingegen durchaus erkennen. Da wir Berlin fast nur während des Überfalls beobachten können, wo er die Rolle des harten Anführers und Geiselnehmers zu erfüllen hat, lässt sich nicht abschließend beurteilen, inwieweit die Züge, welche narzisstisch anmuten, Bestandteil seiner wahren Persönlichkeit sind und die Frage muss offen bleiben.
Unabhängig davon, lässt sich die Frage nach dem möglichen Vorliegen einer dissozialen Persönlichkeitsstörung stellen. Diese Diagnose ist nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F60.2) zu vergeben, wenn mindestens drei der folgenden Kriterien zeitstabil und situationsübergreifend vorliegen:
  • Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer
  • Deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen
  • Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen
  • Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges Verhalten
  • Fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen
  • Deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Rationalisierungen anzubieten für das Verhalten, durch welches die Betreffenden in Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind
Hier scheint das Bild deutlich klarer. Berlin gelingt es kaum, ernsthaft Mitgefühl mit anderen zu haben. Selbst seinem Bruder, welchen er aufrichtig zu lieben scheint, gesteht er kaum Emotionen zu, welche den Plan gefährden könnten. Berlin ist Berufsverbrecher, was zwar kein zwingender Beleg für das Vorliegen einer dissozialen Persönlichkeitsstörung ist, aber durchaus als Hinweis auf eine grundsätzliche Tendenz zur Missachtung (die er darüber hinaus auch im alltäglichen Miteinander zeigt) und Probleme mit dem Lernen aus Sanktionen gesehen werden kann. Seine Hemmschwelle für aggressives Verhalten ist gering, er verstrickt sich permanent in Machtkämpfe und andere Konflikte und schreckt dann auch vor Mord nicht zurück, wofür er aber in der Regel wortgewandte und ausschweifende Rechtfertigungen findet. Die meisten dieser Verhaltensweisen können kaum Teil des Plans bzw. seiner Rolle darin sein, was darauf hinweist, dass es eher grundsätzliche, situationsunabhängige Verhaltenstendenzen sind, was das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung wahrscheinlicher macht.
Bleibt noch der Größenwahn, die Megalomanie. Wahn ist ein psychiatrisches Symptom, das im Rahmen verschiedener psychischer Störungen vorkommen kann, v.a. Schizophrenien. Das Besondere an Wahn ist, dass die Realitätswahrnehmung gravierend gestört ist. Im Falle von Größenwahn würde das bedeuten, dass die/der Betroffene nicht einfach nur arrogant ist oder seine Attraktivität oder bestimmte Fähigkeiten überschätzt, sondern dass die Wahrnehmung der eigenen Bedeutung in eindeutigem Widerspruch zu objektiven Fakten steht. Zum Beispiel könnte sich jemand, der unter Größenwahn leidet, einbilden, eine bedeutsame historische Person (z.B. Jesus oder Napoleon) zu sein, magische Fähigkeiten zu haben, oder der Grund für das Verhalten prominenter Personen oder gesellschaftlicher Gruppen zu sein. Insofern müssen wir über dieses Symptom bei Berlin nicht weiter reden. Hier liegt die fiktive Gerichtspsychiatrie falsch.
Insgesamt lässt sich also bei Berlin am wahrscheinlichsten von einer dissozialen Persönlichkeitsstörung ausgehen. Dennoch bin ich grundsätzlich unschlüssig, inwieweit sein Verhalten habituell ist oder eher Teil einer von ihm und dem Professor ausgeklügelten Strategie zur möglichst effizienten Manipulation der Geiseln und vor allem auch der anderen Geiselnehmer*innen.
Wir werden es leider nie erfahren. 

* Mehr zu Haus des Geldes gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast
 

Weiterlesen

Stephen King: Das Unheimliche

Vortrag beim 1. Göppinger Stephen-King-Abend am 29.6.2018 in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikums Christophsbad, Göppingen
Stephen King gilt als Meister des Unheimlichen. Was ist das, dieses „Unheimliche“? Mit dieser Frage hat sich bereits der erste Psychotherapeut, der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud befasst. 
Er nähert sich dem Begriff zunächst etymologisch, also von der Wortherkunft her. Heimlich kommt von heimelig, also vertraut, geborgen oder sicher. Somit wäre das Unheimliche etwas, das uns unsicher, möglicherweise bedrohlich erscheint. In der modernen Bedeutung bezeichnet heimlich etwas, das im Verborgenen, nicht offen sichtbar geschieht. Demzufolge wäre das Unheimliche also auch etwas, dass aus dem Verborgenen heraustritt und dadurch sichtbar wird.
Letztere Herleitung deutet bereits an, wie das Unheimliche tiefenpsychologisch verstanden werden kann. Im Film (und auch im echten Leben) ist nicht die offene Bedrohung oder der manifeste Terror, z.B. in einem Kriegsfilm oder Splattermovie unheimlich. Unheimlich ist die nicht wirklich sichtbare, im Verborgenen erahnbare Bedrohung. 
Dieses Erleben von Unheimlichkeit beruht, tiefenpsychologisch gesehen, auf einer von zwei möglichen Ursachen, welche zudem nicht selten miteinander einhergehen. Als unheimlich empfinden wir etwas, wenn verdrängte und/oder rational bereits überwunden geglaubte Ängste aktiviert werden.  
Darum kann beispielsweise ein Spaziergang über einen Friedhof bei Nacht unheimlich sein: Der Gedanke an den eigenen Tod macht vielen Menschen Angst, wird aber von den meisten Menschen die meiste Zeit des Lebens verdrängt. Das ist gut so, denn so können wir angstfreier ein erfülltes und erfolgreiches Leben leben. Durch den Friedhof jedoch wird die Thematik des Todes stark angesprochen und die damit unbewusst verbundenen Ängste können stärker wahrgenommen werden. Hinzu kommt, dass der Friedhof der Ort ist, an dem sich die Verstorbenen aufhalten. Rational haben die meisten Erwachsenen die Angst vor Geistern, Untoten etc. überwunden – nichts im Weltverständnis eines halbwegs gebildeten Erwachsenen spricht dafür, dass es so etwas geben könnte. Dennoch überfällt viele von uns ein unheimliches Gefühl, wenn wir nachts auf dem Friedhof ein Geräusch oder einen sich bewegenden Schatten wahrnehmen.
Das Unheimliche lauert also unter der Oberfläche des Vernünftigen, es liegt verdrängt unter dem, was gut, schön und wahr scheint. Bei Stephen King ist das meist die Kleinstadt, das Kleinbürgertum, die Angepasstheit – man könnte auch sagen: Das Erwachsene.  
Und es sind bei Stephen King meist die Kinder, die als erste erkennen, dass da etwas nicht stimmt, dass da etwas Schauriges, Schreckliches, Unheimliches unter der Oberfläche lauert.
Diese universelle Wahrheit macht Kings Geschichten anschlussfähig: Als Kind wissen wir noch um das Grauen der Welt und verzweifeln an den Erwachsenen, die uns weismachen wollen, es sei alles halb so schlimm. Genau wie das Kind im Märchen Des Kaisers neue Kleider, das als einziges ganz selbstverständlich und wider den absurden Rationalismus der Erwachsenen ausruft: „Er hat doch gar nichts an!“ 
Weil das alltägliche Grauen der menschlichen Abgründe (solange sie das Kind nicht unmittelbar betreffen) nicht greifbar, aber eben doch erahnbar ist, und selbst da wo es manifest wird, oft zu unaussprechlich ist, um es beim Namen zu nennen, wird es in Monstern, Geistern, Ungeheuern symbolisiert, so wie King es in seinen Geschichten in Untoten, Horrorclowns, mordenden Maschinen und Psychokillern symbolisiert. Der eigentliche Horror aber, und um diesen geht es Stephen King, findet alltäglich tatsächlich zwischen den ganz normalen Menschen statt: Tod, Verlust, häusliche Gewalt, sexueller Missbrauch, Mobbing – sie werden von den Erwachsenen verdrängt, bagatellisiert und rationalisiert, für die Kinder aber sind sie schmerzhaft real. Wir sind heute in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und wer mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, der kennt diese Rationalisierungen: „Reiß Dich zusammen“, „Das verstehst Du nicht“, „Das ist halt die Pubertät“, „Das geht anderen auch so…“ und so weiter. Aber das sind unzulässige Rationalisierungen und Verharmlosungen: Grausamkeit ist grausam, Schmerz ist schmerzhaft, Gewalt ist brutal – sie zu etwas Normalem, Unvermeidlichem, Logischem zu erklären, ändert daran nichts.  
Stephen King erzählt von diesem alltäglichen Grauen meist beiläufig, sozusagen im Schatten des grandiosen, übernatürlichen Horrors. Für die düsteren Seiten der conditio humana gibt es bei King keine Erklärungen, keine einfachen Lösungen. Das macht ihn zu einem großen Erzähler. Wie Hannah Arendt sagt: „Geschichten zu erzählen offenbart Bedeutung, ohne den Fehler zu machen, sie zu definieren.“  
Vermutlich brauchte und braucht der Vielschreiber King seine eigenen Geschichten auch, um selbst mit dem Schrecklichen in der Welt zurecht zu kommen. Er scheint ein Mann der Extreme zu sein: Früher alkohol- und drogenabhängig, ergeht er sich heute in intensiven Schimpftiraden auf Twitter, bevorzugt gegen Donald Trump, der ihn – worauf King sehr stolz ist – blockiert hat.
Das Unheimliche, das Schreckliche unter der Oberfläche des als normal Definierten, scheint ihm keine Ruhe zu lassen. Dass die Kinder, denen die Bedrohungen in seinen Geschichten ebenso keine Ruhe lassen, die sie bekämpfen, oft auch gegen die Borniertheit und Bequemlichkeit der Erwachsenen, am Ende meist siegen, ist Stephen Kings Form der Bewältigung seiner eigenen realen Welt. Es ist nicht zu übersehen, dass in seinen Geschichten seine eigene Geschichte verarbeitet und neu geschrieben wird. Oft spielen Autoren wichtige Rollen, meist Kleinstädte in Maine, wie die, in der er selbst aufgewachsen ist. Eltern sind oft abwesend, so wie Kings Vater, der die Familie früh verlassen hat, und seine Mutter die mit finanziellen Sorgen belastet war. Als Kind musste er mit ansehen, wie sein Freund von einem Zug überfahren wurde – wir werden in der heutigen King-Verfilmung Stand By Me eine Szene sehen, die darauf Bezug nimmt.  
Sigmund Freud, der Entdecker des Unbewussten hat gesagt: „Jede Phantasie ist ein Wunsch, der realisiert wird, eine Phantasiekorrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit.“ Die Phantasien Stephen Kings, des Meisters des Unheimlichen, korrigieren auf schreckliche wie wunderbare Weise unsere manchmal ebenso schreckliche Wirklichkeit.  
Gerade dieser Tage fällt es uns wieder schwerer, zu verdrängen, dass, unter der noch recht glatten Oberfläche unserer Gesellschaft, Hass und Gemeinheit, Spaltung, Ausgrenzung und Erniedrigung lauern können. Weil sie an die Oberfläche drängen, wie der Clown in Es aus der Kanalisation.  
Es wird wohl auch damit zu tun haben, dass die Geschichten des großen Erzählers Stephen King aktuell sowohl in Hollywood wie auch bei serienproduzierenden Streamingdiensten wie hoch im Kurs stehen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Serienadaptation von Kings Opus Magnum Der dunkle Turm das neue Game Of Thrones werden könnte. Und das ist gut so, denn wir werden Geschichten brauchen, in denen mutige Kinder uns ein Beispiel geben, indem sie dem Schrecklichen, dem Unheimlichen ins Auge sehen und in denen es immer wieder auch bezwungen werden kann.

Den Audio-Mitschnitt vom Vortrag gibt es hier 

Weiterlesen

13 Reasons Why/Tote Mädchen lügen nicht – Staffel 2

Es war irgendwie klar, dass es eine zweite Staffel von 13 Reasons Why (Tote Mädchen lügen nicht) geben würde, angesichts des Erfolgs der ersten Staffel und der Ungerührtheit Netflix´ gegenüber der berechtigten Kritik. Alles, was an Staffel 1 gut war, wird in Staffel 2 erfolgreich fortgesetzt: Die (relative) Authentizität, das Gespür für die Wahrnehmungen, Themen und Entwicklungsprozesse von Jugendlichen, die ungewohnt mutige Darstellung und Reflektion schwieriger Themen. Zudem hat sich Netfilx bemüht, durch Warnhinweise und Statements einiger Darsteller nachträglich auf die Kritik angesichts des hohen Risikos von Werther-Effekten zu reagieren – was zwar grundsätzlich löblich, jedoch in dieser Hinsicht völlig unzureichend ist, da es sich um rationale Information handelt, welche der in hohem Maße zu emotionaler Identifikation einladenden Darstellung der Hannah aus Staffel 1 im Zweifel wenig entgegenzusetzen hat. 

Jedoch scheinen die Serienmacher*innen tatsächlich aus den Fehlern von Staffel 1 gelernt zu haben. Hannahs Suizid wird in Staffel 2 wesentlich kritischer und differenzierter betrachtet. Sie selbst wird nicht mehr posthum zur idealisierten Hauptidentifikationsfigur stilisiert, ihre Ratlosigkeit, Unzulänglichkeit, Überforderung und auch ihr jugendlicher Egozentrismus, werden in den durch Clay imaginierten Dialogen deutlicher. Es ist spürbarer, dass Hannah nicht mehr aktiv am Geschehen teilnimmt, sondern nur ein Bild für Clays innere Zerrissenheit ist. Die zweite Staffel wird nicht mehr aus ihrer, sondern aus mehreren Perspektiven, allesamt lebender Personen, erzählt. Schließlich wird auch Hannahs eigene Ambivalenz durch eine Liste mit elf Gründen gegen den Suizid zumindest angedeutet – wenngleich das Problem, dass Suizide selten so rational abgewogene Handlungen sind, wie es bei Hannah den Anschein hat, hierdurch weiter bestehen bleibt.
Ein sehr wichtiger Unterschied zu Staffel 1 besteht außerdem darin, dass Auswege aus vielen schwierigen, und manchmal zunächst ausweglos erscheinenden, Situationen aufgezeigt werden: Justins Drogenabhängigkeit, Jessicas sexuelles Trauma, Skyes psychische Erkrankung, Alex´ Suizidalität, selbst Tylers Rachephantasien. Die Serie macht an diesen Beispielen deutlich, dass es immer Möglichkeiten gibt, auch in schwierigsten Lebenssituationen Hilfe zu bekommen und Verbesserungen zu erreichen. Gleichzeitig schaffen es die Autor*innen, dabei nicht in Beschönigung oder Verharmlosung zu verfallen: Der Weg ist steinig, von Rückschlägen und Verzweiflung begleitet und, ja, er kann auch scheitern. Aber alleine die Darstellung unterschiedlichster Möglichkeiten, von professioneller psychiatrischer Behandlung, Selbsthilfegruppen, Antiaggressionstraining, bis zum Beistand durch Freund*innen und Eltern (bis auf Justin und Monty haben die Kids ja recht bemühte und funktionale Eltern) ermöglicht gerade jugendlichen Zuschauer*innen eine wesentlich differenziertere und auch realitätsnähere Sicht auf den Umgang mit persönlichen, sozialen und psychischen Problemen. Während die erste Staffel also hinsichtlich Suizidprävention so ziemlich alles falsch gemacht hat, wird in der zweiten Staffel von Lösungsmöglichkeiten und konstruktiven Alternativen zum Suizid berichtet, was wiederum Zuschauer*innen, die selbst von suizidalen Gedanken betroffen sind, Hoffnung machen und dazu anregen, sich Hilfe zu suchen – und zwar durch die emotionale Identifikation mit den handelnden jugendlichen Charakteren, deren Lebens- und Gedankenwelt vertraut scheint, was wirksamer ist, als die bloße Information darüber, dass es Notfallhotlines gibt und wie man sie erreicht (welche natürlich dennoch notwendig ist). Diesen quasi umgekehrten Werther-Effekt bezeichnet man nach Mozart als Papageno-Effekt
Insofern ist Clays Reflektion in der letzten Folge, dass durch Liebe Licht in diese oft als dunkel empfundene Welt gebracht werden kann, so wahr wie an dieser Stelle wichtig. Liebe im weitesten Sinne: Aufmerksamkeit, Respekt, das Bemühen darum die Perspektive der/s anderen einzunehmen und zu verstehen, vorgefasste Meinungen und Urteile zu überprüfen und die eigenen Anteile sowie die gesellschaftlichen Einflüsse auf das zwischenmenschlichen Geschehen zu reflektieren. Gesprächsbereit zu bleiben, sich selbst und anderen zweite und dritte Chancen zu geben. Natürlich geht Clay selbst dabei oft zu weit: Einem schwer Bewaffneten sollte man sich niemals so in den Weg stellen, wie er es tut. Diese letzte Szene sollten wir eher als Metapher dafür sehen, das Gegenüber nicht aufzugeben, im konkreten Fall aber das Verhandeln den Profis überlassen. 
Es ist, wie bereits erwähnt, richtig und wichtig, dass die Serie in dieser Staffel professionelle psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung als hilfreiche Option beschreibt. Deutlich wird das an Skye, die sich in eine psychiatrische Klinik zur Behandlung begibt. Es wird eine bipolar affektive Störung (ICD-10: F31) diagnostiziert, welche durch einen Wechsel zwischen depressiven und manischen Phasen gekennzeichnet ist. Hinweise auf depressive Phasen sind Skyes Selbstverletzung und der Eindruck, dass ihr suizidale Gedanken per se nicht ganz fremd sind. Manisches, also in pathologischer Weise antriebsgesteigertes, enthemmtes und kontaktfreudiges Verhalten, wird in der Szene, in welcher sie bei Clays Eltern eingeladen ist, angedeutet. Meinem Eindruck nach könnte man auch eine emotional instabile Persönlickeitsstörung vom Borderline-Typ (ICD-10: F60.31) diagnostizieren. Auch diese würde Skyes Selbstverletzung und Stimmungsschwankungen erklären, zudem ihre Unsicherheit in der Beziehung zu Clay, die impulsive Eifersucht auf Hannah und auch ihre Aussage, dass sie „all diese Gefühle“ in sich habe und diese schwer kontrollieren könne. Letztlich müssten wir noch mehr über Skye wissen, um die Frage in ihrem speziellen Fall beantworten zu können.
Auch Jessica begibt sich, wenn auch zunächst widerwillig, in professionelle Hilfe: Eine Gesprächsgruppe für Opfer sexueller Gewalt. Sie erlebt hier die heilsame Wirkung von Gruppentherapie, die bereits in den 1970er Jahren von dem amerikanischen Psychotherapeuten Irvin D. Yalom beschrieben wurde. Durch den Austausch mit Menschen, die ähnliches erlebt haben, macht sie die in diesem Moment intensiv emotional spürbare Erfahrung, nicht alleine zu sein, was mehr ist, als das bloße rationale Wissen darum, dass es natürlich andere Opfer sexueller Gewalt gibt. Darüber hinaus erlebt Jessica durch andere Gruppenmitglieder, die in ihrem therapeutischen Prozess bereits weiter fortgeschritten sind, dass es Hoffnung auf Linderung und auf ein Leben mit weniger starken Beeinträchtigungen gibt, als sie es aktuell führt und sieht ganz konkrete Modelle, wie die nächsten Schritte aussehen könnten. Schließlich gelingt es Jessica, detailliert über ihr Trauma zu sprechen. In der Serie geschieht das, wohl auch aus dramaturgischen Gründen, vor Gericht. Das muss aber nicht unbedingt so sein. Die Entscheidung, ob ein sexuell traumatisierter Mensch Anzeige erstattet und den (in der Realität im Ergebnis leider oft ebenso wie in der Serie enttäuschenden) juristischen Weg beschreitet, ist hochindividuell und niemandes Entscheidung, als die des Betroffenen selbst. So findet auch Jessica erst durch den Gruppenprozess – in diesem Fall vor allem den Entwicklungsprozess in der Gruppe ihrer Freunde, welche es endlich schaffen, sich vorbehaltlos hinter sie zu stellen, statt sie in die eine oder andere Richtung drängen zu wollen – zu dem Mut und der Kraft, für sich die Entscheidung zu treffen, Bryce anzuzeigen und auszusagen. Hierdurch erlebt sie die befreiende Wirkung des vollständigen Sich-Öffnens in einer vertrauten sozialen Umgebung und fühlt sich dadurch befreit. Diesen Effekt bezeichnet die Psychoanalyse als Katharsis (Reinigung): Dadurch, dass sie ihr Schweigen bricht, gewinnt sie Kontrolle über die Auswirkungen ihres Traumas im Hier und Jetzt zurück, fühlt sich dadurch freier und handlungsfähiger, wo sie zuvor durch Flashbacks und die Vermeidung bestimmter Situationen (z.B. körperlicher Nähe oder sich selbst nackt zu betrachten) – Kernsymptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F43.1) – stark eingeschränkt war. Deshalb ist es für sie auch weniger bedeutsam, dass der Richter ein viel zu mildes Urteil fällt – sie hat ohnehin nicht wirklich zu ihm oder Bryce, sondern zu sich selbst und den Menschen, die in ihrem Leben auch weiterhin wichtig sein sollen, gesprochen.
Und dann ist da noch die Gewaltspirale, deren Eskalation, neben dem Prozess um Hannah, die zweite Haupthandlung der zweiten Staffel darstellt. Es gibt noch immer keine treffendere Beschreibung, als die von Yoda aus Star Wars Episode I: Furcht führt zu Wut. Wut führt zu Hass. Hass führt zu unsäglichem Leid. In Staffel 2 von 13 Reasons Why lernen wir, dass dieser Prozess schon sehr früh begonnen hat. Er beginnt beim kleinen Bryce, dessen Eltern nicht präsent sind, um ihm Grenzen zu setzen und Empathie zu vermitteln. Beim kleinen Justin, der früh mit Minderwertigkeitsgefühlen und drohender Ausgrenzung aufgrund seiner familiären Herkunft zu kämpfen hat, beim kleinen Monty, dessen Vater ihn misshandelt und ihn damit in einer Welt aufwachsen lässt, die sich in Starke und Schwache, Täter und Opfer teilt und in der es sicherer ist, möglichst oft der Starke, der Täter zu sein, um möglichst nicht Opfer zu werden. Bei allen dreien, ja, auch Bryce, ist es das früh gesäte Minderwertigkeitsgefühl, dass es notwendig macht, sich ständig über andere zu erheben, um sich der eigenen Wertigkeit in Form sozialer Abwärtsvergleiche zu versichern: Wenn die anderen klein genug gemacht werden, kann selbst der Unsicherste sich groß und stark fühlen. Was bei Monty und Justin offensichtlich ist – auch bei Marcus, dessen Vater bedingungslosen Ehrgeiz und Erfolg fordert und sich dabei selbst als gleichsam unerreichbares Vorbild geriert – ist der Minderwertigkeitskomplex offensichtlich, bei Bryce weniger. Doch auch seine psychische Entwicklung nimmt Schaden, dadurch dass er keine wirkliche empathische Spiegelung, also ein verlässliches, authentisches, differenziertes Eingehen auf seine Gefühlsäußerungen und sein Verhalten erfährt. Er scheint kaum Möglichkeiten zu haben, sich die Aufmerksamkeit seiner Eltern zu sichern. Alles was er hierfür tut, führt lediglich zur Bewunderung durch andere, auf die es aber zunächst gar nicht ankommt. Auch weil diese Bewunderung vergiftet ist durch seinen sozialen Status. Er kann sich nie sicher sein, ob er als Person gemeint ist, oder nur sein Reichtum, der familiäre Einfluss oder die bloße Angst vor ihm oder seinem Vater. Symptomatisch ist die Szene, in welcher das ganz Stadion seinen Sieg beim Football bejubelt, er jedoch einsam und verloren wirkt, weil niemand da zu sein scheint, der sich auch für ihn interessieren würde, wenn der Erfolg ausbleibt. Seine Eltern hatten mal wieder keine Zeit zum Spiel zu kommen… 
Sie alle stabilisieren ihr eigenes, fragiles Selbstwertgefühl auf Kosten anderer, vorzugsweise der vermeintlich Schwächsten, um sich im Vergleich stark und sicher zu fühlen. Viele bekommen das zu spüren, am stärksten Tyler. Je mehr er gemobbt wird, umso unsicherer wird er, was wiederum dazu führt, dass er sozial gehemmt und ungeschickt agiert und sich neuem Spott aussetzt. Auch er beginnt nach Möglichkeiten zu suchen, sich einmal stark und mächtig zu fühlen und verfällt immer stärker Gewaltphantasien. Dabei zeigt auch seine Entwicklung, dass es eben nicht vergeblich ist, sich um andere, die am Rand stehen und sich gegen die Gesellschaft zu wenden drohen, zu kümmern. Immer wieder schöpft Tyler Hoffnung, versucht sich zu integrieren, sich zu öffnen, Freunde und Liebe zu finden. Manchmal ist es Pech, manchmal Zufall, manchmal auch die Boshaftigkeit derer, die ihren Schmerz auf einen Schwächeren projizieren müssen, die Tyler letzten Endes doch immer weiter in die Isolation treiben. Dieser Prozess wird glaubhaft dargestellt. Zum Glück scheint er auch am Ende noch nicht zu Ende zu sein…

HILFE BEI SUIZIDGEDANKEN, MOBBING UND ANDEREN KRISEN FINDEST DU IN DER KLINIK FÜR (KINDER- UND JUGEND-) PSYCHIATRIE IN DEINEM LANDKREIS ODER ANONYM BEI DER TELEFONSEELSORGE!

Weiterlesen

Skins: Effy

„If you close your eyes, you see darkness. But if you keep them closed for long enough, and concentrate hard, you’ll see light.“
Effy
 
Effy Stonem aus der weniger bekannten, aber sehr sehenswerten, melancholisch-schönen Serie Skins (UK, 2007), ist ein faszinierender, düsterer Charakter. Eine jugendliche Femme fatale, körperlich fast noch ein Kind und doch von der tiefen Traurigkeit und dem unstillbaren Hunger nach Leben und Liebe getrieben, die einen Menschen zerreißen können. Beliebt, begehrt, bewundert – und doch im Innern unsicher und ängstlich. Extravertiert, offensiv und exzessiv in fast jeder Hinsicht – und doch im Innern einsam und entfremdet, ihre wahren Gefühle vor allen, auch sich selbst, verbergend.
Auf der psychopathologischen Ebene zeigt Effy in den ersten beiden Staffeln, in denen sie eher eine Nebenrolle spielt, einen elektiven Mutismus. Diese Störung wird in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F94.0) beschrieben als die Unfähigkeit, in bestimmten Situationen oder mit bestimmten Personen zu sprechen, obwohl geistige Entwicklung, Sprachverständnis und Sprechfähigkeit im Allgemeinen altersgemäß entwickelt sind und in bestimmten Situationen normal gesprochen werden kann.
Interessanterweise wird elektiver Mutismus in der ICD-10 in einem Kapitel mit den Bindungsstörungen aufgeführt und tatsächlich scheint es, als würde Effy durch ihr Schweigen vor allem ganz präzise regulieren, mit wem sie wann und wie weit in Beziehung tritt und wen sie von sich fernhält – dazu später mehr.
In den Staffeln drei und vier wird Effy der Hauptcharakter der Serie und leider auch schwer psychisch krank. Wir erfahren, dass es eine familiäre Vorbelastung von affektiven Störungen (ICD-10: F3) gibt. Hierunter fallen Störungen der Stimmung, also krankhaft gedrückte Stimmung (Depression) sowie krankhaft gehobene Stimmung (Manie) und diverse leichtere und Mischformen dieser Störungen.
In der Serie wird Effys Krankheit als psychotische Depression bezeichnet, damit ist das Krankheitsbild der Schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen (ICD-10: F32.3) gemeint. Zusätzlich zu schweren depressiven Symptomen, wie z.B. gedrückter Stimmung, Freud- und Interessensverlust, Antriebslosigkeit, Leeregefühlen, geringem Selbstwertgefühl und Suizidalität, liegen hier sogenannte psychotische Symptome, also gravierende Verzerrungen der Realitätswahrnehmung, wie z.B. Wahnvorstellungen und Halluzinationen vor.
Damit wird Effys Aktusymptomatik passend beschrieben. Meiner Ansicht nach könnte jedoch Effys Psychodynamik insgesamt auch als beginnende Bipolare Affektive Störung (F31.5) klassifiziert werden. Der Unterschied besteht darin, dass außer der beschriebenen schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen auch manische oder hypomanische (leichtere manische) Episoden auftreten können. Diese sind gekennzeichnet durch Verhalten wie:
  • Gesteigerte Aktivität und Ruhelosigkeit
  • Soziale Hemmungslosigkeit mit sozial unangemessenem Verhalten
  • Vermindertes Schlafbedürfnis
  • Überhöhte Selbsteinschätzung
  • Ablenkbarkeit oder andauernder Wechsel von Aktivitäten oder Plänen
  • Leichtsinniges, riskantes Verhalten
  • Gesteigerte Libido oder sexuelle Taktlosigkeit
Interessanter als die formale psychopathologische Klassifikation von Effys Symptomatik ist jedoch, wie so oft, ihre innere Psychodynamik: Was Effy sich, wie jeder Mensch, wünscht, ist Liebe. Wahre, bedingungs- und selbstlose, verlässliche Liebe. Was sie, wie viele Menschen, mehr als alles andere fürchtet, ist verlassen, enttäuscht, verletzt zu werden.
Psychologen nennen das einen unsicher-ambivalenten Bindungsstil: Effy sucht intensiv nach Liebe, versucht, die Menschen durch ihre Extravertiertheit und ihren Charme an sich zu binden – und muss doch gerade die Beziehungen, die ihr besonders viel bedeuten, bis zum Zerreisen auf die Probe stellen, gerade weil sie ihr so viel bedeuten, dass sie den Gedanken, sich weiter einzulassen und die Angst davor, später vielleicht doch verlassen zu werden, nicht aushalten kann.
 
Die Einsamkeit ist ihr ein vertrauter Feind. Ihre Eltern waren nicht verlässlich für Effy da, auch wenn die Mutter sich immer wieder bemüht hat, fehlte es ihr doch an eigener emotionaler Stabilität. Ihr Bruder Tony liebt Effy sehr, ist jedoch – natürlich – mit seinem eigenen Erwachsenwerden beschäftigt und somit kein Ersatz für die fehlende, durch die Eltern nicht gegebene, Stabilität und den emotionalen Halt, den ein Kind braucht. Effys Ersatzfamilie sind – wie für die meisten Jugendlichen in Skins – ihre Freunde.
Folglich erwartet sie von diesen das, was sie von Familien kennt: Oberflächliche Gesellschaft deren Sicherheit gerade darin besteht, dass niemand ihr wichtig genug wird, um sich von ihm abhängig zu fühlen und dadurch verletzbar zu werden. Freunde wie Cook, von dem man immer weiß, dass man nichts zu erwarten hat, sind die sicherste Abwehr gegen Bindungs- und Verlustängste.
Effy selbst beschreibt diese Ambivalenz so: „Sometimes I think I was born backwards, you know, came out my mum the wrong way. I hear words go past me backwards. The people I should love I hate, and the people I hate…”
Freddie dagegen, mit seinem glaubhaften Angebot aufrichtiger und bedingungsloser Liebe, wird Effys vermeidendem Beziehungsmodus gefährlich, fordert ihre abgewehrten Wünsche und Sehnsüchte heraus und muss sich von Effy so hart und wiederholt auf die Probe stellen lassen, dass seine Liebe und er selbst fast daran zerbrechen. Dennoch schafft er es schließlich, das Vertrauen der so unsicheren, verletzlichen, sicherheitsbedürftigen Effy zu gewinnen und für einen kurzen Moment sieht es so aus, als könnte alles gut werden – aber so eine Art Serie ist Skins nicht…
 
Weiterlesen

Gypsy: Jean

Die Netflix-Serie Gypsy gehört zum Unheimlichsten, was ich seit langem gesehen habe. Das mag überraschen, liegt aber daran, dass das Unheimliche dann am unheimlichsten ist, wenn es realistisch daherkommt und uns selbst betrifft.

Die Psychotherapeutin Jean ist eigentlich ganz nett. Sie bemüht sich, eine gute Mutter zu sein und kämpft dabei, ebenso wie in ihrer Ehe, darum, zwischen Alltagsstress und Midlifecrisis der Individualität und den Bedürfnissen der geliebten Menschen in ihrem Leben gerecht zu werden. Unter anderem das macht sie eben so realistisch und zunächst auch anschlussfähig.
Ebenso ihre Arbeit: Ihre Tätigkeit als Teilzeitpsychotherapeutin in einer Gemeinschaftspraxis, die wöchentliche Supervision im Team, die ausführliche Dokumentation der Sitzungen – alles wie im echten Leben.

In diesem Setting, das Psychotherapeuten wie ich so oder ähnlich tagtäglich mit Jean teilen, entspinnt sich nun zunächst langsam, dann immer rasanter und letztlich unaufhaltsam, die Katastrophe: Eine Psychotherapeutin, die ihre Position, das Vertrauen ihrer Patient*innen und ihre Kenntnisse in Psychologie und Gesprächsführung ausnutzt, um eigene Bedürfnisse nach Unterhaltung, Zuwendung, Macht und Kontrolle zu befriedigen.

Jean verstößt dabei gleich gegen alle vier Grundsätze der Medizinethik:
  1. Autonomie: Patient*innen müssen über Sinn, Nutzen und Risiken jeder therapeutischen Intervention informiert werden, um sich autonom dafür oder dagegen entscheiden zu können. Jean jedoch beeinflusst und manipuliert ihre Patient*innen zunehmend im Sinne ihrer eigenen Ziele, der Verschleierung ihrer Absichten und der Vertuschung ihrer Lügen.
  2. Nicht-Schädigung: Nach dem auf Hippokrates zurückgehenden Prinzip „primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare“ (lat.: erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein, drittens heilen) steht an erster Stelle jeder medizinischen Entscheidung der Schutz des Patienten vor unerwünschten schädlichen Wirkungen der Behandlung. Jean jedoch nimmt Schäden an der psychischen Stabilität und den sozialen Beziehungen ihrer Patient*innen in Kauf, ohne dass dies durch einen therapeutischen Nutzen für diese auch nur entfernt zu rechtfertigen wäre.
  3. Fürsorge: Unter Berücksichtigung der ersten beiden Prinzipien sind medizinische Behandler*innen verpflichtet, aktiv zum Wohle ihrer Patient*innen tätig zu sein, alle Möglichkeiten der Therapiemethode auszuschöpfen um ihre Genesung zu fördern. Jean jedoch vernachlässigt ihre Patient*innen zunehmend. Sie hört nicht mehr aufmerksam zu, denkt nicht mehr aktiv über deren Probleme und mögliche therapeutische Lösungsansätze nach, sondern ist gedanklich mit den für sie wichtigen und interessanten Themen beschäftigt und schenkt ihren Patient*innen ihre Aufmerksamkeit nur noch selektiv, wenn diese Themen berührt werden.
  4. Gerechtigkeit: Patient*innen sind nach allen Regeln der Kunst bestmöglich zu behandeln, unabhängig davon, ob die Therapeutin oder der Therapeut sie mag, sie interessant oder angenehm oder langweilig findet. Gerade hierfür ist eine gewisse therapeutische Abstinenz notwendig: Die privaten Leben von Therapeut*innen und Patient*innen sollten sich nicht überschneiden, da hieraus Konflikte zwischen dem Wohl von Patient*innen und den privaten Bedürfnissen von Therapeut*innen entstehen können – was in Gypsy eindrucksvoll aufgezeigt wird und zu massiver Ungerechtigkeit von Jean gegenüber einigen ihrer Patientinnen und Patienten führt.
Insofern ist Jean, gerade weil ihre Lebenswelt realistisch und ihre Bedürfnisse und Motive grundsätzlich nachvollziehbar sind, die Horrorvision einer Psychotherapeutin – schlimmer als die vielen kriminellen oder schwer gestörten Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Filmen und Serien, die wir leicht in den Bereich der Fiktion und Fantasie verbannen können, wie z.B. in Dexter (Dr. Meridian, Dr. Vogel), Hannibal/Schweigen der Lämmer (Dr. Hannibal Lecter), Hide and Seek (David Callaway) oder Skins (Dr. Foster).
Übrigens, es gibt auch sehr gute Psychotherapeut*innen in Filmen und Serien. Mehr dazu ist im Charakterneurosen Podcast – Folge 18 zu erfahren!

Weiterlesen