Casablanca: Rick

Hätte man dem charismatischen Cafébetreiber Rick Blaine aus dem Filmklassiker Casablanca von 1942 etwas über Depressionen erzählt, hätte er wahrscheinlich angenommen, es gehe um die jüngste amerikanische Wirtschaftskrise. Allenfalls hätte er ein vages Bild des psychologischen Depressionsbegriffes als irgendeine neurotische Spinnerei für Frauen und Feiglinge gehabt…

Tatsächlich sind die Symptome einer depressiven Störung nur schwer in Übereinstimmung zu bringen mit dem Männerbild, das Rick geprägt hat und zu dessen Inbegriff er wurde.
Diese Symptome sind nach ICD-10 (F32):
  • Depressive/gedrückte Stimmung
  • Interessen-/Freudverlust
  • Antriebsminderung, gesteigerte Ermüdbarkeit
  • Verlust des Selbstvertrauens
  • Schuldgefühle
  • Suizidgedanken
  • Konzentrationsstörungen, Unentschlossenheit
  • Psychomotorische Hemmung oder Agitiertheit
  • Schlafstörungen
  • Appetitstörungen
Nun mögen die starren Geschlechtsrollenstereotypen mit denen Rick aufgewachsen ist, inzwischen etwas (!) an Gültigkeit verloren haben, Tatsache ist dennoch, dass Männer statistisch seltener an einer solchermaßen definierten depressiven Störung erkranken. Haben Männer also weniger Grund, traurig, verzweifelt und niedergeschlagen zu sein? 
In Ricks Fall wohl kaum! Als unter ungeklärten Umständen seiner Heimat beraubter Paria findet er in Paris die Liebe seines Lebens, nur um von dieser später ohne weitere Erklärung wieder verlassen zu werden. In Casablanca baut er sich ein neues Leben auf und genießt hohes Ansehen unter den Ausgestoßenen, Gestrandeten und Verfolgten Europas. 
Aber glücklich wirkt er dabei nicht. Kränkung und Verlust sitzen zu tief. Der frühere Idealist und Philanthrop, der mehrfach im antifaschistischen Widerstand engagiert war, ist zum Egoisten und Zyniker geworden („Ich halte für niemanden den Kopf hin“). 
Er begegnet seinen Mitmenschen gereizt und herablassend (Ugarte: „Sie verachten mich, nicht wahr?“ Rick: „Wenn ich einen Gedanken an Sie verschwenden würde, wahrscheinlich“).
Er provoziert und beleidigt seine Gäste (Rick: „Sie können Ihr Geld an der Bar ausgeben.“ Deutscher Gast: „Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?“ Rick: „Das weiß ich, seien Sie froh, dass Sie überhaupt an die Bar dürfen.“). Er benutzt und verletzt die Frauen (Yvonne: „Wo warst du gestern Nacht?“ Rick: „Das ist schon solange her, ich erinnere mich nicht mehr.“ Yvonne: „Sehen wir uns heute Nacht?“ Rick: „Ich plane nie soweit im Voraus.“). Er schmuggelt, besticht, zockt, raucht und trinkt.

Rick, der vor dem Verlust seiner großen Liebe (und auch später, nach dem Wiedersehen mit ihr) ein ganz anderer (gewesen) zu sein scheint, zeigt damit die Symptome eines psychopathologischen Konstrukts, das als male depression (männliche Depression) bezeichnet wird.
Dieses Syndrom, das noch nicht Eingang in die offiziellen internationalen Klassifikationssysteme psychischer Krankheiten gefunden hat, beschreibt eine mehr an (typischerweise) männlichen Erlebens- und Verhaltensweisen orientierte Reaktion auf depressive Gefühlslagen und soll verhindern, dass depressive Störungen bei männlichen Patienten übersehen, oder fehldiagnostiziert werden (z.B. als Sucht oder dissoziale Persönlichkeitsstörung).
Vorgeschlagene Kriterien für die Diagnose einer male depression sind:

  • Dysphorie/Gereiztheit
  • Zynismus
  • Aggression/Impulsivität
  • Dissoziales/delinquentes Verhalten
  • Risikoverhalten, Extremsport
  • exzessives Arbeiten („Flucht in die Arbeit“)
  • Alkohol- und Nikotinmissbrauch
Während sich die psychologische Forschung unserer Tage dem Phänomen der männlichen Depression langsam annähert, wusste Captain Renault in Casablanca Ricks Verhalten bereits richtig einzuordnen: „Weil ich, mein lieber Rick, den Verdacht hege, dass unter dieser zynischen Schale ein recht sentimentales Herz schlägt.“ Er erkennt Ricks Schmerz, gesteht ihm aber auch seine Abwehrmechanismen zu. Er trinkt, raucht und scherzt mit ihm und als es darauf ankommt, lässt er ihn nicht hängen. Wie man das unter Männern macht.
So entlockt er schließlich dem notorischen Zyniker Rick die berühmtesten Schlussworte der Filmgeschichte: „Louis, ich denke das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.“
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Good Will Hunting: Will

Der gute Will Hunting hat viele Talente: Er hat ein fotografisches Gedächtnis, eine scheinbar lückenlose Allgemeinbildung und die Fähigkeit, schwierigste mathematische Aufgaben zu lösen. Er ist zweifellos weit überdurchschnittlich intelligent oder, in der Terminologie der akademischen Psychologie, hochbegabt.
Als hochbegabt gilt eine Person, wenn sie in einem Intelligenztest mindestens 130 Punkte erreichen würde, wobei der Bevölkerungsdurchschnitt auf 100 Punkte festgelegt ist. Hingegen gilt jemand ab einem Testwert von unter 70 als geistig behindert. Gängige Intelligenztests erfassen Fähigkeiten wie logisch-schlussfolgerndes Denken, kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit, Merkfähigkeit, verbales Verständnis usw. Ob Will jemals einen Intelligenztest absolviert hat, wissen wir nicht, aber angesichts seiner Fähigkeiten können wir davon ausgehen dass sein Intelligenzquotient sogar deutlich über 130 liegt.

Der außergewöhnlichen intellektuellen Begabung steht nun ein, nach den gängigen gesellschaftlichen Maßstäben, geradezu demonstrativ erfolglos wirkendes Leben gegenüber.
Damit ist Will das was die pädagogische Psychologie einen Underachiever nennt: Eine Person, die hinsichtlich Leistung und Erfolg weit unter ihren Möglichkeiten bleibt. Nun muss es nicht jedermanns höchstes Ziel sein, Geld und gesellschaftliches Ansehen zu maximieren (wenngleich dies eine weit verbreitete Erfolgsdefinition ist, welche im Film u. a. durch Professor Lambeau vertreten wird).

Aber Will fehlt es nicht nur daran. Er hatte auch noch nie eine Freundin, kann sich kein Auto leisten und steht immer wieder wegen Gewaltdelikten vor Gericht, was ihn schließlich sogar ins Gefängnis bringt. Die Frustration über sein Leben lässt er immer wieder in aggressiver Form an anderen aus, die er erniedrigt (wie den Studenten in der Bar), lächerlich macht (wie die Psychotherapeuten, deren Meinung über ihn feststand bevor er zur Tür herein kam) oder zusammenschlägt (wie den jungen Mann, der ihn als Kind drangsaliert hat). 
Viele Underachiever halten sich selbst, aufgrund von entsprechenden Zuschreibungen und/oder wiederholten Erfahrungen des Scheiterns, für durchschnittlich oder sogar eher gering begabt. Nicht so Will. Er weiß um seine Fähigkeiten. Vielmehr scheint er sich bewusst und aktiv allen Regeln und Konventionen der Leistungsgesellschaft zu verweigern.
Er demonstriert damit seine Unabhängigkeit von und seine Verachtung für Autoritäten jeder Art. Angesichts seiner Vorgeschichte ist das nicht verwunderlich. Will hat seine Eltern verloren und ist in der Folge von Behörden und Pflegeeltern immer wieder im Stich gelassen und sogar massiv misshandelt worden.
Die Konsequenz, die er daraus zieht, ist, sich in jeder (vor allem aber emotionaler) Hinsicht möglichst unabhängig zu machen um sich vor Enttäuschung und Verletzung zu schützen. Oder, wie Will aus einem psychologischen Gutachten über sich selbst zitiert: „Will leidet unter Bindungsproblemen, Angst im Stich gelassen zu werden…“ 
Will Huntings Verhalten ist damit exemplarisch für den so genannten unsicher-vermeidenden Bindungsstil der psychologischen Bindungstheorie. Die Bindungstheorie beschreibt die folgenden vier (idealtypischen) Bindungsstile, welche durch die Beziehungserfahrungen der Kindheit geprägt werden: 

  • Sichere Bindung resultiert aus der Erfahrung dass die wichtigen Bezugspersonen zuverlässig da sind, wenn man sie braucht. Menschen mit diesem Bindungsstil fühlen sich sicher genug, um selbstständig und frei zu agieren, in dem Vertrauen darauf, Hilfe und Zuspruch zu erfahren, wenn sie derer benötigen. Entsprechend gelingt es ihnen, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen und zu pflegen, in welchen beide Partner einerseits füreinander da sind und sich andererseits selbst verwirklichen können. 
  • Unsicher-vermeidende Bindung resultiert aus der konsistenten Erfahrung, von anderen nichts oder nur schlechtes erwarten zu können. Die Konsequenzen sind Einzelgängertum oder oberflächliche Beziehungen ohne emotionalen Tiefgang. Der Schutz vor Verletzung hat Priorität und wird mit Einsamkeit bezahlt.
  • Unsicher-ambivalente Bindung entsteht, wenn Bezugspersonen sich inkonsistent verhalten, also situativ unterschiedlich und unvorhersehbar intensive Zuwendung, Desinteresse oder Aggression zeigen. Dies kann zum Beispiel bei psychisch kranken oder suchtmittelabhängigen Eltern der Fall sein. Die Nähe zu anderen Menschen wird folglich ambivalent besetzt: Einerseits schmerzlich vermisst und dringend ersehnt, andererseits mit dem ständigen Risiko von Enttäuschung und Verletzung behaftet. Menschen mit diesem Bindungsstil sind ständig hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Nähe und dem Bedürfnis nach Abgrenzung, zwischen dem Versuch den Anderen mit allen Mitteln an sich zu binden und dem Impuls ihn radikal von sich zu stoßen. 
  • Der desorganisierte Bindungsstil stellt eine Art Restkategorie dar und beschreibt ein Bindungsverhalten, welches hoch inkonsistent ist und sich keiner der drei Hauptkategorien zuordnen lässt. Mögliche Ursachen können schwere Misshandlungen und andere Traumata sein. 


Vor dem Hintergrund der Bindungstheorie können wir Wills innere Isolation als nachvollziehbaren und teils durchaus sinnvollen Schutzmechanismus verstehen. So schützt ihn sein Misstrauen und sein scheinbares Desinteresse an der Anerkennung anderer zum Beispiel davor, sich von Professor Lambeau und den anderen Karrieristen für ihre Zwecke ausnutzen zu lassen. 
Allerdings ist Wills Beziehungsangst so groß, dass er sich auch auf Menschen, welche es gut mit ihm meinen, nicht wirklich einlassen kann. Er lässt in seinem Leben keine Ansprechpartner auf Augenhöhe zu, sondern gibt sich mit Freunden ab, die zwar nette Menschen sind, aber intellektuell nicht mit ihm mithalten können, weshalb er sich ihnen auch nicht wirklich anvertraut. Daneben pflegt er Scheinbeziehungen zu den großen Denkern und Literaten (beziehungsweise zu deren Ideen), wodurch er das Risiko menschlich enttäuscht zu werden vermeidet, aber in der realen Welt umso einsamer bleibt.
Sein Wissen über die Welt ist ein theoretisches und Menschen, die sich entsprechend der Theorie, bzw. des Klischees, logisch-vorhersehbar verhalten, kann er mit der ganzen Schärfe seines Verstandes analysieren und kontrollieren. Sein Wissen gibt ihm die Macht, sich gegen die ebenfalls (aber weniger perfekt) schablonenhaft-theoretisch denkenden und agierenden Psychotherapeuten, den schnöseligen Elitestudenten in der Bar, die arrogante akademische Elite und die opportunistischen Personaler der großen Wirtschaftsunternehmen zu behaupten und sie mit ihren eigenen Waffen vernichtend zu schlagen. Will lebt in einer Welt der zwischenmenschlichen Demütigung und hat nach Jahren des Leidens seine Waffen perfektioniert um nie wieder Opfer zu werden. 
Umso verunsicherter und überforderter reagiert Will auf Menschen, die sich entgegen seiner klischeehaften Erwartungen verhalten. Da ist Skylar, die obwohl Frau und Elitestudentin, weder arrogant noch zimperlich ist, die sich nicht für Wills Lebensstil schämt oder vor seiner traumatischen Vergangenheit zurückschreckt. Und da ist Sean, der obwohl Elterngeneration und Psychotherapeut, weder überheblich noch heuchlerisch auftritt, der eigene Gefühle zeigt, anstatt Wills zu kategorisieren. Beide mögen Will um seiner selbst willen, was für diesen so ungewohnt ist, dass er es lange nicht glauben kann und immer wieder auf die Probe stellen muss.
So führt er Skylar zum ersten Date in einen billigen Burgerladen und zum Hunderennen aus – und ist sichtlich beeindruckt, als sie nicht nur nicht wegläuft, sondern später im Pub vor seinen Freunden obszöne Witze erzählt. Auch versucht er Sean ein ums andere Mal zu provozieren (was ihm in der gewohnten Treffsicherheit für die wunden Punkte anderer auch gelingt), in der Erwartung, dass dessen Freundlichkeit nur professionelle Fassade ist und er ihn, wie Will es gewohnt ist, letztlich doch zurückweist, wenn es unbequem wird. Sean jedoch gelingt es, seine Kränkung und Verletztheit weder hinter einer pseudoprofessionellen psychotherapeutischen Maske zu verstecken, noch sich dafür durch eigene Gemeinheiten an Will zu rächen. Stattdessen lässt er ihn an seinen Gefühlen teilhaben, zeigt Will Grenzen auf und ist dennoch weiterhin für ihn da (große psychotherapeutische Kunstfertigkeit!). So wird Sean für Will schließlich zum väterlichen Vorbild, zum Beispiel eines Mannes, der, aus ähnlichen Verhältnissen stammend, sein Potential verwirklicht hat, ohne sich zu verkaufen. Der Verluste in Kauf genommen hat, um ein Leben in Verbundenheit zu Leben – und der dies nun, da die Verluste eingetreten sind, nicht bereut. 
Skylar und Sean widerlegen die Allgemeingültigkeit von Wills Theorien über die Menschen und damit auch über sich selbst. Sie zeigen ihm auf, dass es jenseits des Grauens der Vergangenheit und der Festungsmauern seines Wissens noch Unbekanntes zu entdecken gibt. Wie alles Unbekannte ist es mit Risiken verbunden, aber Will beginnt wieder an ein Leben zu glauben, das diese Risiken wert ist.
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The Sixth Sense: Cole

Der kleine Cole sieht tote Menschen – und fürchtet sich vor ihnen.
Dass ein Kind Angst vor Geistern hat, ist per se nicht unnormal, allerdings sind Coles Ängste ausgesprochen heftig und beeinträchtigen sein Leben massiv. Außerdem zeigt er eine, für einen Neunjährigen, auffallend gering ausgeprägte Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen. 
Die von dem Kinderpsychologen Dr. Crowe anfänglich geäußerte Verdachtsdiagnose einer emotionalen Störung ist demnach zutreffend. Cole leidet unter einer phobischen Störung des Kindesalters, die nach ICD-10 (F93.1) definiert ist als: Anhaltende oder wiederkehrende Angst (Phobie), die zwar entwicklungsphasenspezifisch ist (oder zum Zeitpunkt des Beginns war), die aber übermäßig ausgeprägt und mit deutlichen sozialen Beeinträchtigungen verbunden ist.

Warum sieht Cole tote Menschen? Oder anders gefragt: Warum hat Cole seine Angst vor Geistern noch nicht überwinden können, wie die meisten anderen Neunjährigen? 
Angst vor Geistern (Hexen, Monstern, Krokodilen…) ist Angst vor dem alleine sein. Wenn die Eltern im Zimmer sind, oder hineinkommen, ist die Angst meist schnell wieder weg. So geht es auch Cole: Selbst wenn er die toten Menschen weiterhin sieht, machen sie ihm keine Angst mehr, sobald seine Mutter oder Dr. Crowe im Raum sind.
In dieser Angst vor dem alleine sein spiegelt sich die reale Erfahrung jedes Neugeborenen und Kleinkindes wider, von der Mutter und später auch anderen Erwachsenen existenziell abhängig zu sein. Wenn das Kind dann die Erfahrung macht, von den Erwachsenen verlässlich beschützt und versorgt zu werden, entsteht das sogenannte Urvertrauen. Damit ist eine tendenziell optimistische Haltung gegenüber der Welt, den Menschen und sich selbst gemeint, welche die Grundlage für das Gefühl der Selbstwirksamkeitdarstellt, also die Erwartung, Situationen und auch eigene Emotionen erfolgreich beeinflussen und bewältigen zu können. Ist diese grundlegende Fähigkeit vorhanden, können sich Kinder immer neuen altersspezifischen Ängsten (Entwicklungsaufgaben) stellen und durch deren Bewältigung ein weiteres Stück unabhängiger von den Eltern werden.
Coles Entwicklung aber ist ins Stocken geraten. Er kann die Angst vor dem alleine sein erst im Verlauf des Films überwinden. Bis zu einem gewissen Punkt scheint seine Entwicklung ganz passabel verlaufen zu sein, was dafür spricht, dass er zunächst Gelegenheit hatte, ein grundlegendes Urvertrauen auszubilden, welches dann aber erschüttert wurde.
Vieles spricht für Dr. Crowes Hypothese, dass die ausschlaggebende Situation die Trennung von Coles Eltern war. Sein Vater hat die Familie verlassen und da Cole nicht weiß warum, kann er nicht ausschließen, dass er als Sohn versagt und den Vater enttäuscht hat. Die Mutter wurde daraufhin psychisch krank (wahrscheinlich depressiv), die Behandlung blieb erfolglos. Cole behauptet, sich nicht daran erinnern zu können, ob er bereits vor der Trennung der Eltern tote Menschen gesehen habe. Am wahrscheinlichsten ist, dass er als Kleinkind schonmal Angst vor Geistern oder ähnlichem hatte, diese dann überwunden hat und auf das Trennungstrauma mit Regression, das heißt mit dem Rückfall auf eine frühere emotionale Entwicklungsstufe, reagiert.
Dafür spricht auch, dass Coles kindliche Angst vor Geistern, und seine Hilflosigkeit im Umgang damit, in auffallendem Widerspruch zu seiner Gesamtpersönlichkeit stehen. Wenn er nicht gerade in Panik verfällt, wirkt er ausgesprochen intelligent, eloquent, rational und reflektiert. Kurz: Er wirkt wie ein kleiner Erwachsener.

Das hat einen Grund: Cole ist parentifiziert. Das bedeutet, dass sich die Eltern-Kind-Beziehung zwischen Cole und seiner Mutter umgekehrt hat.
Nach der Trennung der Eltern steht er alleine da, mit einer Mutter, die nicht nur traurig, sondern auch impulsiv, orientierungslos und affektlabil ist – wie ein kleines Kind. Sie schafft es nicht, trotz ihrer eigenen Trauer noch für ihren Sohn da zu sein, sondern erwartet von diesem (zumindest unbewusst), dass er nun statt des treulosen Ehemannes (und des enttäuschenden Psychotherapeuten) für sie da ist. In ihrer Aussage, ihre Gebete seien nie erhört worden und daher müssten Cole und sie nun ihre Gebete gegenseitig erhören, kommt das direkt zum Ausdruck.
Auf die Ängste ihres Sohnes reagiert sie entweder wütend, weil sie sich belogen fühlt, oder selbst hochgradig panisch, was sein Vertrauen in die Bewältigbarkeit von Ängsten weiter schwinden lässt.

Das Muster der Parentifizierung bildet sich auch in der Beziehung zu Dr. Crowe ab. Wegen seiner eigenen Eheprobleme ist er immer wieder versucht, Coles Fall abzugeben. Doch Cole schafft es, Dr. Crowe an sich zu binden, indem er auch diesen dazu bringt, ihm gegenüber die eigenen Probleme offenzulegen, was Dr. Crowe eigentlich als Kunstfehler betrachtet. Dies gelingt Cole durch ebenjene erwachsen wirkende Art, weil sie Dr. Crowe, in seiner eigenen Bedürftigkeit, die Tatsache verdrängen lässt, dass hier ein krankes Kind seine Hilfe braucht, und nicht umgekehrt.

Cole ist kein „Psycho“ (wie ihn die anderen Kinder nennen) weil er Angst vor Geistern hat, sondern weil ihm eine Aufgabe zugemutet wird, die völlig unangemessen und maximal überfodernd ist.
Er bemüht sich nach Kräften, erwachsen und vernünftig zu sein, was bei den Gleichaltrigen naturgemäß nicht gut ankommt. Dass er Mitschüler bezahlt, um der Mutter vorzumachen, er sei integriert, damit diese sich besser fühlt, lässt ihn vor jenen noch verrückter dastehen. 

Weil er lernen musste, die Gefühle von Erwachsenen zu deuten um darauf reagieren zu können, ist er in der Lage, seinen Lehrer so zu verletzen, dass sogar dieser ihn schließlich vor der Klasse als „Psycho“ beschimpft.
Dass Cole für das ständige Zurückstellen seiner altersgemäßen Bedürfnisse mit kompensatorischen infantilen Ängsten bezahlt, macht ihn noch zusätzlich zum Gespött der Gleichaltrigen, welche den pathologischen Kontrast zwischen der altklugen Ernsthaftigkeit und der bis zur Ohnmacht führenden Panik intuitiv erkennen.

Im Film bewältigt Cole die übergroßen Aufgaben zu guter Letzt: Er erkennt, dass auch die Geister (Wie könnte es anders sein!) nur seine Hilfe wollen, und beginnt damit, sich erfolgreich um sie zu kümmern. Er löst Dr. Crowes Eheprobleme, indem er ihm hilft die Wahrheit zu erkennen. Und er heilt zumindest eine der Wunden seiner Mutter, indem er ihr berichten kann, dass ihre eigene Mutter damals doch bei ihrer wichtigen Schulaufführung gewesen ist.
In Wahrheit wäre es wohl besser gewesen, die Mutter hätte einen zweiten psychotherapeutischen Behandlungsversuch unternommen und so vielleicht die Kraft gefunden, zu Coles Schulaufführung zu kommen.

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Die Wand: Die Frau

In der österreichisch-deutschen Romanverfilmung „Die Wand“ von 2012 wird die namenlose Protagonistin durch eine unsichtbare Wand von der menschlichen Außenwelt abgetrennt. Diese ist zwar für sie sichtbar, allerdings wirken die Menschen jenseits der Wand wie eingefroren. Doch auch wenn sie das nicht wären, schiene eine Kommunikation durch die vollständig schalldichte Wand verunmöglicht.

Die unsichtbare Wand inmitten einer ansonsten realistisch anmutenden österreichischen Bergwelt kann metaphorisch verstanden werden, als unsichtbares, nicht rational greifbares Hemmnis der Kommunikation mit anderen Menschen. Ähnlich der zunächst gegen ihren Willen isolierten, sich dann aber zunehmend mit der Situation arrangierenden, Protagonistin, können wir uns das innere Erleben von Menschen mit einer schizoiden Persönlichkeitsstörungvorstellen.
Diese ist in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F60.1) beschrieben als überdauerndes Erlebens- und Verhaltensmuster, das gekennzeichnet ist durch:

  • Rückzug von affektiven, sozialen und anderen zwischenmenschlichen Kontakten
  • einzelgängerisches Verhalten und in sich gekehrte Zurückhaltung
  • übermäßige Vorliebe für Phantasien
  • begrenztes Vermögen, Gefühle auszudrücken und Freude zu erleben 

Diese zurückgezogene Isolation ist, auch das wird im Film deutlich, zunächst einmal nicht selbst gewählt. Die Protagonistin befindet sich eingangs in Gesellschaft eines Paares im Alter ihrer Elterngeneration. Wenngleich die vollständige Isolation hier noch nicht stattgefunden hat, ist bereits Kommunikation mit diesen Elternfiguren spärlich. Die Protagonistin wirkt still, in sich gekehrt und in ihre eigenen Gedanken versunken.
Ein Kind, welches von seinen Eltern keine (oder, was ebenfalls denkbar wäre, nur beängstigende) Ansprache erfährt, wird sich eventuell ebenso in eine innere Welt zurückziehen und diese, wie für die schizoide Persönlichkeitsstörung charakteristisch, fantasievoll ausgestalten, um dort Anregung, Ansprache und Emotionalität zu erleben.
Im Film wird dies vor allem durch die Haustiere veranschaulicht, die der Frau nach und nach zulaufen, was unter der abgeschlossenen Glasglocke recht unwahrscheinlich anmutet. Auch der weiße Rabe steht für die kreative Ausgestaltung der eigenen Erlebniswelt. Nach und nach werden den Tieren von der Frau immer menschlichere Eigenschaften zugeschrieben, was nur allzu verständlich ist und verdeutlicht, wie der fehlende emotionale Kontakt zu anderen Menschen in der Innenwelt zu ersetzen versucht wird.

Dass es sich bei diesem Rückzug nach innen, bzw. in ein zunächst friedvoll-beschauliches Naturidyll, nicht um eine selbstgenügsame, meditative Rückbesinnung auf das Wesentliche handelt, um eine letztlich willkommene Entschleunigung und Entsagung der ohnehin rauschhaft-oberflächlichen Menschenwelt oder ähnliches, lässt sich daran erkennen, dass die Frau, ebenso wie Menschen mit schizoider Persönlichkeitsstörung, innerlich und äußerlich zusehends verhärtet, man könnte fast sagen: Versteinert. Der Tonfall ihrer Berichte (die sie im dritten Jahr der Isolation zu schreiben beginnt) ist monoton, emotionslos, unbeteiligt. Am Schreiben selbst hat sie keine Freude, empfindet es, wie fast alles in ihrem täglichen Überlebenskampf, als schiere Notwendigkeit.

Wenngleich also die äußere Isolation und der innere Rückzug der Frau nicht selbst gewählt sind und sie emotional zunehmend verkümmert, arrangiert sie sich resignativ und relativ klaglos mit der nicht zu ändernden Situation und entfremdet sich dabei zwangsläufig immer weiter von der Welt der anderen Menschen.
Die Entfremdung ist dabei eine gegenseitige: Der schizoide Mensch wirkt auf die Außenwelt eigenartig, skurril und an allem zwischenmenschlichen desinteressiert. Gleichzeitig erscheinen deren Konventionen, Werte und Maßstäbe für ihn, den Ausgeschlossenen, unverständlich, willkürlich und mit hoher Wahrscheinlichkeit zunehmend überfordernd und potentiell bedrohlich.
Für diese letztlich vollendete Entfremdung von der Menschenwelt, steht im Film das Aufeinandertreffen mit dem Mann: Für die Frau wirkt er chaotisch brutal, maximal bedrohlich, ohne Sinn für die Erhabenheit ihrer Natur- und Tierwelt. Nach den Jahren der erzwungenen Isolation, erscheint ihr der erste Mensch, mit dem sie in Kontakt kommt, als fremd und gefährlich – und damit die Sicherheit ihrer Einsamkeit als die erträglichere Alternative.
Indes kann der Mann auch anders gesehen werden. Möglicherweise hat er sich im Wald verirrt und tötet den Stier aus verzweifeltem Hunger und den Hund aus Notwehr. In seiner Welt könnte ein Rind vielmehr ein Nahrungsmittel als ein Freund sein, von der besonderen Beziehung der Frau zu ihren Tieren kann er nichts wissen – und würde sie womöglich auch nicht verstehen können.
So endet der erste menschliche Kontakt seit Jahren in einer Tragödie, da die Frau den Menschen so fremd geworden ist, dass einer kommunikativen Verständigung und gegenseitigem Verstehen inzwischen jede Basis fehlt.

Der Film „Die Wand“ bietet hierfür keine Lösung an und tut daran gut, denn auch in der Psychotherapie gilt die schizoide Persönlichkeitsstörung als schwer behandelbar. Dies liegt jedoch nicht daran, dass die Störung (und die nicht selten auftretenden komorbiden Folgestörungen wie Ängste oder Depressionen) nicht behandelbar wäre, sondern vielmehr daran, dass für die Inanspruchnahme von psychotherapeutischer Unterstützung ein Mindestmaß an Hoffnung darauf, von anderen Menschen doch noch Hilfe und Zuspruch erfahren zu können, erhalten sein muss.
Falls dieses gegeben ist (oder geweckt werden kann), kann eine vorsichtige Wiederannäherung im Rahmen der therapeutischen Beziehung erfolgen, sofern es dem Therapeuten, anders als dem Mann im Film, gelingt, Respekt für die Leistung des schizoiden Menschen aufzubringen, sich über Jahre hinweg mit einer für die meisten Menschen als unaushaltbar erlebten Situation bestmöglich arrangiert zu haben.

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Game of Thrones: Joffrey, Cersei & Robert



Joffrey Baratheon ist der jugendliche Prinz der sieben Königreiche und Thronfolger seines (vermeintlichen) Vaters Robert Baratheon. Außerdem ist er – bei Zuschauern wie Zeitgenossen – äußerst unbeliebt.

Wie könnte es auch anders sein? Es scheint ihm Freude zu machen, Prostituierte und auch seine kurzzeitverlobte Sansa zu quälen oder Untergebene, wie zum Beispiel den Metzgerssohn oder den betrunkenen Ritter bei seinem Geburtstagsturnier, zu tyrannisieren. Er widersetzt sich seinem Onkel Tyrion und seiner Mutter Cersei, was zu heftigen Streits führt. Seine wachsende Macht nutzt er, um beide wiederholt zu erniedrigen. Auch das Töten (lassen) von Tieren (Sansas Schattenwolf Lady) und Menschen (Eddard, Ros) scheint ihm Vergnügen zu bereiten.
Psychopathologisch zeigt Joffrey die Merkmale einer Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen (ICD-10: F91.1). Diese gehört zu den Störungen des Kindes- und Jugendalters und zeichnet sich durch dissozial-aggressives Verhalten bei gleichzeitiger starker Beeinträchtigung der Beziehungen zu anderen Menschen, v.a. Gleichaltrigen, aus.
Joffreys dissoziales Verhaltensmuster ist durch folgende typische Merkmale gekennzeichnet:

  • Tyrannisieren 
  • Erpressung
  • Gewalttätigkeit 
  • Grausamkeit gegenüber Menschen und Tiere
  • Exzessives Streiten 
  • Ausgeprägte und unkontrollierte Wutausbrüche
  • Fehlen von Kooperationsbereitschaft 
  • Ungehorsam und Grobheit gegen Erziehungspersonen

Ebenso offensichtlich zeigt sich das zweite Charakteristikum der Krankheit, die Beziehungsstörung: Joffrey hat nicht einen einzigen Freund. Auch Sansas Liebe währt nur solange, wie sie braucht um ihn wirklich kennenzulernen.
Seine Kontaktversuche werden durch seine arrogante, selbstbezogene und unempathische Art, von jedem, der sich traut, zurückgewiesen. Alle anderen begegnen ihm mit vorgetäuschtem Respekt, aus Angst vor seiner Grausamkeit.

Da die Ursachen für Störungen des Sozialverhaltens überwiegend im psychosozialen Bereich liegen, müssen wir Joffreys Kindheit und familiäre Situation untersuchen, um seine Symptomatik zu verstehen:
Joffreys Mutter Cersei verlor ihre eigene Mutter bereits im Alter von neun Jahren. Von ihrem Vater Tywin wurde und wird sie nicht um ihrer selbst willen geliebt, sondern ausschließlich in ihrer Funktion als Heiratsfaustpfand und Stammhaltergebärerin wahrgenommen. Der Glanz im Auge des Vaters ging ihr völlig ab.
Nach dem Tod der Mutter kann sie der totalen Einsamkeit nur dadurch entgehen, dass sie sich emotional an die einzige verfügbare Bezugsperson, ihren Zwillingsbruder Jaime, bindet. Um sich dessen Zuneigung und Loyalität zu versichern, bedient sie sich des einzigen, wozu sie sich entsprechend den Zuschreibungen ihres Vaters fähig fühlt, nämlich erotischer Verführung.
Was sich zunächst als psychische Überlebensstrategie des emotional vernachlässigten Kindes entwickelt, manifestiert sich im Erwachsenenalter als Störung der Sexualpräferenz (ICD-10: F65.8): Cersei scheint nur im Inzest sexuelle Erfüllung zu finden, wobei inzwischen außer Jaime auch andere männliche Verwandte als Sexualpartner in Frage kommen. Wir können darin mit einiger Wahrscheinlichkeit den unbewussten Versuch sehen, sich die Liebe des Vaters, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, doch noch zu sichern. Der ursprüngliche Wunsch und die mit ihm verbundene, anhaltende Kränkung, können dabei verdrängt werden, weil das bewusste Begehren auf andere Männer (Jaime, Lancel) verschoben wird, die dem Vater aber zumindest ähneln müssen, indem sie die typischen Merkmale der Lennistermänner (blonde Haare, Tendenz zum Narzissmus) aufweisen.

Im Gegensatz zu Joffrey selbst, weiß Cersei von Beginn an, dass ihr Zwillingsbruder der biologische Vater ihres Kindes ist. Dies erklärt die extreme Ambivalenz aus naiver Idealisierung und tiefer Scham, mit der sie Joffrey, je nach Situation, immer wieder begegnet.
Er verkörpert zwar das begehrte Männerideal (Generationsgrenzen spielen in Cerseis Wahrnehmung kaum eine Rolle) und bestätigt ihre Daseinsberechtigung in den Augen ihres Vaters (Thronfolger gebären), gleichzeitig stellt Joffrey aber auch eine ständige Erinnerung an ihre Trieb- und Sündhaftigkeit dar. Selbst wenn sie sich selbst dafür nicht erkennbar schämt bzw. ihre Scham verdrängt und rationalisiert (die Targaryens machen es aber auch…), so lässt ihr Vater sie seine Enttäuschung über ihr Verhalten (zumindest darüber, dass es herauskommt und den Ruf der Familie befleckt) deutlich spüren, was die frühen Entwertungen reaktualisiert und ihre ödipalen Minderwertigkeitsgefühle weiter verstärkt.
Als Joffreys psychische Defekte zunehmend erkennbar werden, kommen wahrscheinlich zusätzliche Schuldgefühle hinzu: Als Nicht-Psychologin könnte Cersei annehmen, dass seine Störung genetisch und damit durch den Inzest bedingt ist.
Summa summarum kann Joffrey von seiner Mutter kaum positive Impulse für seine eigene psychische Entwicklung erwarten.


Joffreys namentlicher Vater, König Robert Baratheon, ist alkoholabhängig (ICD-10: F10.2) und gewalttätig. Einer Anekdote nach, hat er Joffrey bereits als kleinem Kind zwei Milchzähne ausgeschlagen, nachdem dieser eine Katze grausam getötet hatte (ein erstes Frühzeichen der späteren Störung des Sozialverhaltens).
Robert ist dem Suff wohl aus allgemeiner Enttäuschung über sein Leben anheimgefallen. Diese verbindet ihn mit seiner Vernunftehefrau Cersei, wofür beide sich gegenseitig beschuldigen und hassen.
Seine wahre Liebe, Ned Starks Schwester, wurde getötet. Seine Trauer reagierte er in einem Krieg zur Eroberung des eisernen Throns ab (man nennt diese Kanalisierung von unangenehmen Emotionen in Richtung auf ein konstruktives Ziel Sublimierung), was kurzfristig die Lebensfreude zurückbringt. Doch spätestens als alle Feinde besiegt sind, kehren Trauer und Enttäuschung zurück. Was Robert bleibt ist die Flucht in den Rausch, in dem er von den längst vergangenen Tagen als schöner Jüngling, stolzer Weiberheld und unbesiegbarer Krieger träumen kann. Das verlorene Gefühl der eigenen Attraktivität kauft er sich bei Prostituierten und den ausbleibenden Triumpf auf dem Schlachtfeld versucht er durch die Erniedrigung Untergebener, wie Cersei oder Jaime, zu kompensieren.
Vielleicht dient er damit bereits Joffreys späterem Sadismus als unfreiwilliges Vorbild.

Robert weiß nicht, dass Joffrey nicht sein wirklicher Sohn ist. Falls er es geahnt hat, scheint er dies gut verdrängt zu haben. Hätte er den Verdacht aufkommen lassen, hätte er handeln müssen, und dazu ist er zu Beginn der Handlung von Game of Thrones bereits zu lebensmüde.
Da Robert nicht der Mann ist, der er werden wollte, wünscht er sich, dass sein Erstgeborener der Mann wird, der er selbst in seiner melancholisch verklärten Erinnerung gewesen sein will. Aus seiner Enttäuschung darüber, dass Joffrey diesem Ideal an Mannhaftigkeit und Edelmut nicht gerecht werden kann, macht er keinen Hehl. Mit der an sich richtigen Erkenntnis auf dem Sterbebett, dass Joffrey (zumindest noch) nicht reif dafür ist, den Thron zu besteigen, fügt er diesem posthum eine letzte schwere Kränkung zu.

Das Selbstbild eines Kindes entsteht maßgeblich aus den bewussten und unbewussten Zuschreibungen anderer, in erster Linie der Eltern. So wie sich Tywins Erwartungen und Entwertungen in Cerseis Charakter niedergeschlagen haben, wird auch Joffreys Persönlichkeitsentwicklung durch die frühen Beziehungserfahrungen mit seinen Eltern geprägt.
In diesen erlebt er einerseits deren völlig überhöhten Erwartungsdruck: Er soll stark, mutig und schön werden, wobei bereits hier die Wünsche der Eltern auseinandergehen (eine Manifestation der jeweiligen familiären Größenfantasien) und somit nie vollständig zu erfüllen sind. Durch sein Lennisteraussehen, für das er nun gar nichts kann, gefällt er zwar der Mutter, verstärkt aber die Distanz zum Vater. Auch die Karriereansprüche der Eltern an den Sohn (Herrscher auf dem eisernen Thron, König der Andalen und der ersten Menschen, Herr der sieben Königslande, Beschützer des Reiches…) wirken narzisstisch überzogen und setzen den Jungen von Geburt an unter Druck.
Andererseits nimmt Joffrey unbewusst auch die massiven Konflikte, Zweifel, Enttäuschungen und Schamgefühle seiner Eltern wahr, insbesondere auch gegenüber ihm selbst, was nagende Selbstzweifel in den Tiefen seiner Seele verankert, die er durch sein arrogantes Auftreten (in erster Linie vor sich selbst) verbergen muss.

Joffrey ist damit das, was in der Familienpsychotherapie als Indexpatient bezeichnet wird: In seiner Symptomatik manifestieren sich die Störungen und Konflikte des gesamten Familiensystems. Seine auffallende Pathologie, über die sich alle anderen irgendwie einig sein können, ermöglicht die Verdrängung und Verleugnung der eigenen individuellen und systemischen Störungen. Im Umkehrschluss werden an den Indexpatienten unrealistische Hoffnungen auf eine umfassende Heilung des ganzen Familiensystems geknüpft (wenn er nur nicht so, sondern anders wäre…).

So wächst Joffrey mit großen Selbstzweifeln und gleichzeitig in dem unbewussten Glauben auf, dass es allein seine Aufgabe sei, die beiden psychisch kranken und unglücklich verheirateten Eltern stolz und glücklich zu machen sowie deren individuelle Schuldgefühle und Selbstzweifel zu kompensieren, die chronisch machtbesessenen Dynastien der Baratheons und Lennisters zu vereinen, einen Vielvölkerstaat aus historisch verfeindeten Clans zusammenzuhalten, das Reich gegen Armeen magischer Kreaturen zu schützen und noch vieles mehr. In der Pubertät verliert er dann noch seinen Vater und erfährt zu guter Letzt, dass dieser gar nicht sein Vater war und er somit, in der westerosschen Terminologie, ein Bastard ist.

Da kann man schonmal ein bisschen arschig werden.

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Rambo I-IV: John Rambo

John J. Rambo ist ein hochdekorierter Veteran des Vietnamkriegs, jenem Krieg, in dessen Folge durch die psychologische Erforschung der Traumafolgeerkrankungen der heute gültige Begriff Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS, englisch: Posttraumatic Stress Disorder PTSD) eingeführt wurde.

Wie viele seiner Kameraden (und Generationen von Soldaten davor und danach) leidet auch Rambo nach seiner Heimkehr unter dieser Störung, die nach ICD-10 (F43.1) durch die folgenden Kriterien definiert wird:

  • Der Betroffene war (kurz oder lang anhaltend) einem belastendem Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde
  • Es müssen anhaltende Erinnerungen an das traumatische Erlebnis, oder das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (z. B. Flashbacks), oder eine innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder damit in Zusammenhang stehen, vorhanden sein
  • Der Betroffene vermeidet (tatsächlich oder möglichst) Umstände, die der Belastung ähneln
  • Sowie entweder: Eine teilweise oder vollständige Unfähigkeit, sich an einige wichtige Aspekte des belastenden Erlebnisses zu erinnern, und/oder:
  • Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung, z. B. erhöhte Schreckhaftigkeit, Hypervigilanz, Reizbarkeit und Wutausbrüche

Belastende Ereignisse von außergewöhnlicher Bedrohlichkeit dürfte Rambo während seines Einsatzes zur Genüge erlebt haben, zumal er neben der aktiven Teilnahme an Kampfhandlungen auch Gefangenschaft und Folter ertragen musste.
Die aufdrängenden Erinnerungen an das Trauma, sowie massive innere Bedrängnis, werden bei Rambo durch die erneute Gefangenschaft, diesmal im kleinstädtischen Polizeirevier, hervorgerufen. Insbesondere erlebt er Flashbacks, d. h. blitzartig einschießende Erinnerungen an traumatische Situationen, inklusive der dazugehörigen Bilder und Emotionen.
Folglich empfindet Rambo den typischen, übermächtigen Drang, die retraumatisierende Situation zu verlassen, was er genreentsprechend impulsiv umsetzt, indem er sich seinen Weg aus der Arrestzelle freikämpft, womit auch die Frage nach Reizbarkeit und Wutausbrüchen bereits beantwortet wäre.
Ob Rambo sich an Teile des erlebten nicht mehr erinnern kann, wissen wir nicht. Zumindest scheint er die dazugehörigen Emotionen zunächst gut verdrängt zu haben, bis sie durch die erneute Gewalterfahrung wieder aktiviert werden.
Deutlich können wir jedenfalls Hypervigilanz (d. h. gesteigerte Wachsamkeit) und erhöhte Schreckhaftigkeit beobachten, wenn Rambo, einem Wildtier gleich, in sekundenschnelle das Bedrohungspotential einer Situation erfasst und instinktiv blitzschnell mit Kampf- oder Fluchtbewegungen reagiert.

Rambo ist also schwer traumatisiert. Umso mehr muss man sich fragen, warum er sich immer wieder selbst in Situationen bringt, die ihn mit Gewalt, Krieg und Tod konfrontieren und damit sein Trauma reaktualisieren, was auch als Wiederholungszwang bezeichnet wird.

Schon zu Beginn des ersten Films scheint er nicht in sein altes Leben (auf der Ranch seines Vaters) zurückkehren zu wollen. Stattdessen sucht er auch in der Heimat den Kontakt zu den Kriegskameraden (die aber alle bereits tot sind).
Bereits auf die erste (noch recht harmlose) Feindseligkeit des Sheriffs reagiert er passiv-aggressiv indem er sich ihm provokativ widersetzt. In den drei Fortsetzungen lässt er sich zwar jeweils nicht sofort zum kämpfen überreden, findet dann aber doch immer recht schnell Gründe, um wieder in den Krieg zu ziehen.

Um Rambos Verhalten zu verstehen, müssen zunächst die psychischen Mechanismen der Traumabewältigung erörtert werden:
Rambo erlebt in der Kriegsgefangenschaft Dinge, die psychisch kaum zu verarbeiten sind. Wahrscheinlich werden die schier unaushaltbaren Gefühle von Todesangst, Schmerz, Verzweiflung und auch Hass schon während der Traumatisierung abgespalten. Das bedeutet, sie werden so erlebt, als gehörten sie gar nicht zu dem jungen John J. Rambo aus Bowie, Arizona, der sie auch kaum überleben könnte. Im unbewussten Teil der Psyche entsteht eine abgespaltene zweite Entität, die auf sich nimmt, was das Ich nicht tragen kann. Diesen Vorgang nennt man Dissoziation.
Colonel Trautman bringt es, leider recht unkritisch, auf den Punkt: Rambo sei „ein Mann, der darauf trainiert ist, keine Schmerzen zu fühlen, der sie verdrängt… In Vietnam konnten Rambo und ich uns Emotionen nicht leisten.“
Dabei scheint er Schuldgefühle angesichts seiner eigenen Verantwortung für Rambos wiederholte Traumatisierung narzisstisch abzuwehren: „Gott hat Rambo nicht geschaffen, ich habe ihn geschaffen.“
Doch zurück zu Rambo: Die dissoziierten Anteile sind, wie gesagt, zunächst einmal unbewusst. Dadurch kann das Ich im Allgemeinen weiter funktionieren, ohne permanent durch das Trauma und die dazugehörigen Affekte gestört zu werden. Das funktioniert aber nur solange, wie die unbewussten Inhalte nicht durch Auslösereize (bei Rambo zum Beispiel Rasiermesser, Gitterstäbe, Schusswaffen) ins Bewusstsein gerufen (getriggert) werden, was sich dann beispielsweise in Form von Flashbacks zeigt. Dann nämlich fühlt sich Rambo unmittelbar in die traumatische Situation zurückversetzt und mit den existenziellen Ängsten konfrontiert.

Damit das Ich vor diesen überwältigenden Affekten nicht kapitulieren muss, kommt nun ein weiterer Abwehrmechanismus zum Tragen, der bei Rambo besonders stark ausgeprägt ist: Die Identifikation mit dem Aggressor.
Statt sich Krieg und Folter hilflos ausgeliefert zu fühlen, wie es real der Fall gewesen ist, identifiziert sich Rambo mit den Kriegern und Folterern, ja mit dem Krieg selbst. Im vierten Teil der Reihe kann er dies bereits benennen: „Du hast erkannt, wer du bist, woraus du gemacht bist. Krieg hast du im Blut. Wenn man dich dazu zwingt, ist Töten so einfach wie Atmen“ (Wobei letzteres, im Falle starker Angst, so leicht gar nicht ist). Die Macht seiner Gegner macht sich Rambo identifikatorisch zu eigen, seine Todesangst projiziert er auf die Feinde zurück. Da er in der Tat ein überaus begabter Kämpfer ist, gelingt es ihm auch immer wieder, die innerpsychischen Abwehrmechanismen handelnd in der Realität umzusetzen. Somit wird das Selbstbild der Kriegsmaschine durch die Zuschreibungen der Anderen, die ihn real fürchten müssen, oder ihn, wie Trautman, nur um seiner Kampfkraft willen respektieren, verfestigt.

Folglich ist der Krieg Rambos Weg, nicht an seinen eigenen Ängsten zugrunde zu gehen. Und es sind sehr menschliche Ängste, z. B. vor Ausgrenzung und Einsamkeit (Teil 1), vor dem Verlust von Freiheit (Teil 2), vor dem Tod eines engen Freundes (Teil 3) oder einer heimlich geliebten Frau (Teil 4), die ihn immer wieder zur Kriegsmaschine werden lassen.

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The Big Bang Theory: Raj



Der Astrophysiker Dr. Rajesh „Raj“ Koothrappali kann nur mit Frauen sprechen, wenn er betrunken ist, oder denkt, es zu sein. Ausnahmen sind enge Verwandte, wie seine Mutter und seine Schwester. 

Eine selektive Sprachhemmung in bestimmten Situationen wird im ICD-10 als elektiver Mutismus (F94.0) bezeichnet und ist durch folgende Kriterien definiert: 
  • Nachweisbare beständige Unfähigkeit, in bestimmten sozialen Situationen, in denen dies erwartet wird, zu sprechen. In anderen Situationen ist das Sprechen möglich
  • Dauer des elektiven Mutismus länger als vier Wochen
  • Es liegt keine tiefgreifende Entwicklungsstörung vor
  • Sprachausdruck und Sprachverständnis liegen im altersentsprechenden Normalbereich.
  • Die Störung beruht nicht auf fehlenden Kenntnissen der gesprochenen Sprache, die in den sozialen Situationen erwartet wird
Die Unfähigkeit, in bestimmten Situationen, nämlich gegenüber Frauen, zu sprechen, als Kernmerkmal der Störung, ist bereits genannt. Die Symptomatik dauert bereits deutlich länger als vier Wochen an, wahrscheinlich schon immer. Eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die ebenfalls die sprachliche Kommunikation stark beeinträchtigen kann, liegt nicht vor. Als solche gilt unter anderem das Asperger-Syndrom (F84.5) unter dem Sheldon Cooperleidet.
Rajs sensorische und motorische Sprachfähigkeit ist altersgemäß, nämlich vollständig, ausgebildet und obwohl er einen indischen Akzent hat, spricht er gut genug Englisch, um sich in angstfreien Situationen adäquat zu verständigen. Die dem Mutismus zugrunde liegende Störung ist in Rajs Fall eine soziale Phobie (F40.1):
  • Deutliche Furcht im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten
  • Deutliche Vermeidung im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder von Situationen, in denen die Furcht besteht, sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten
  • Mindestens zwei Angstsymptome in den gefürchteten Situationen, z.B. Erröten oder Zittern etc.
  • Deutliche emotionale Belastung durch die Angstsymptome oder das Vermeidungsverhalten.
  • Einsicht dass die Symptome oder das Vermeidungsverhalten übertrieben und unvernünftig sind
  • Die Symptome beschränken sich ausschließlich oder vornehmlich auf die gefürchteten Situationen oder auf Gedanken an diese
Die gefürchtete Situation ist für Raj eben das Sprechen mit Frauen, insbesondere dann, wenn diese, zumindest theoretisch, als Sexual- und Beziehungspartnerinnen in Frage kommen.
Die Gestaltung sozialer Beziehungen wird grundlegend geprägt durch die ersten wichtigen Beziehungspersonen. Dies sind in der Regel zunächst die Eltern. Rajs Eltern sind in Indien erfolgreich und hoch angesehen und offenbar legen sie großen Wert auf Etikette und Tradition. Mit Rajs Beruf als Astrophysiker und vor allem mit seinem Gehalt, sind die Eltern unzufrieden, vermutlich hätten sie sich gewünscht, dass er in die beruflichen Fußstapfen seines Vaters tritt und Gynäkologe wird. Die Mutter ist überaus bestimmend, drängt Raj, sich baldmöglichst zu verheiraten, wobei sie klare Vorstellungen von einer standesgemäßen Ehefrau hat und amerikanische Frauen pauschal ablehnt.
Wir sehen: Raj kann es seinen Eltern kaum recht machen. Da familieninterne Beziehungsdynamiken häufig sehr stabil sind, liegt es nahe, dass Raj bereits mit hohen Erwartungen und unverhohlener Enttäuschung seiner Eltern aufgewachsen ist.
Es scheint als habe er sich vor den überhöhten Anforderungen immer wieder geflüchtet: Zunächst in die Fantasiewelt von Comics und Science Fiction, später, im Studium, in die Betrachtung der unendlichen Weiten des Weltraums und schließlich, als sich die Gelegenheit bot, in die USA.
Doch auch am anderen Ende der Welt (und auch wenn seine Eltern nicht regelmäßig per Videochat Kritik an ihm üben und ihn mit seiner finanziellen Abhängigkeit zu beeinflussen versuchen würden) kann Raj dem Selbstbild, welches seine Eltern ihm über Jahre hinweg vermittelt haben, nicht entfliehen: Ständig zweifelt er daran, liebenswert zu sein und wird von der Angst heimgesucht, auf ewig einsam bleiben zu müssen.
Da eine solche Angst nur schwer auszuhalten ist, muss sie immer wieder aus dem Bewusstsein verdrängt werden, damit Raj überhaupt in der Lage ist, sich auf die Bewältigung seines alltäglichen Lebens zu fokussieren und nicht in Verzweiflung zu versinken. Den psychischen Mechanismus, durch den schwierige emotionale oder kognitive Inhalte ins Unbewusste verdrängt werden, nennt man Abwehr. Der spezifische Abwehrmechanismus, der in Rajs Fall zum Tragen kommt, heißt Verschiebung. Die globalen Ängste, Minderwertigkeits- und Schamgefühle werden auf eine spezifische Situation oder ein spezifisches Objekt verschoben, um in anderen Situationen freier und sicherer agieren zu können. Allerdings geht damit eine potenzierte phobische Angst vor der Situation bzw. dem Objekt einher, auf welches all die Ängste und Befürchtungen verschoben worden sind.
Hierfür findet die Psyche oft Objekte, welche bereits mit einer gewissen Angst besetzt sind, z.B. Spinnen oder Schlangen, welchen gegenüber der Mensch, aufgrund ihrer potentiellen Giftigkeit, eine evolutionär determinierte Prädisposition zur Angst aufweist (welche man Preparednessnennt).

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Rajs Ängste sich auf Frauen und die Beziehungsaufnahme mit ihnen konzentrieren: Rajs erste und bisher wichtigste weibliche Bezugsperson war seine Mutter, welche ihn im Laufe seines Lebens immer wieder kritisiert, beschämt und gekränkt hat und ihn sich ständig unzureichend fühlen lässt.
Ähnlich verhält sich sein Vater. Dieser ist außerdem Gynäkologe, also ein wahrer Frauenkenner, gegen den Rajs erste, unbeholfene Versuche, mit dem weiblichen Geschlecht in Kontakt zu kommen, diesem besonders unbeholfen und beschämend erschienen sein müssen.
Somit bezieht sich Rajs phobische Angst vor Frauen gar nicht auf diese selbst, sondern stellt vielmehr einen neurotischen Kompromiss dar, welcher es ihm ermöglicht, trotz großer Selbstzweifel, Schamgefühle und Versagensängste ein weitgehend unbeeinträchtigtes und in einigen Bereichen sogar recht erfolgreiches Leben zu führen.
Folglich überrascht es nicht, dass er seine Phobie schnell überwindet, nachdem er zum ersten Mal eine fremde Frau (Lucy) wirklich persönlich kennengelernt hat. Die Konfrontation mit deren Ängsten, welche Rajs ähnlich sind, lässt sie für Raj als echten Menschen und die Begegnung mit ihr auf Augenhöhe erscheinen. Und davor muss er keine Angst haben – oder zumindest nur so viel, wie jeder andere Mann auch.
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The Big Bang Theory: Sheldon

Der Physiker Dr. Dr. Sheldon Cooper ist eine der Hauptfiguren der Comedyserie The Big Bang Theory. Er lebt mit seinem Kollegen und Freund Dr. Leonard Hoffstatter in einer Wohngemeinschaft in Californien. Weitere wichtige Bezugspersonen sind der Astrophysiker Dr. Rajesh Koothrappali, der Ingenieur Howard Wolowitz und Sheldons Nachbarin Penny.
Sheldon Cooper ist nicht nur intellektuell hochbegabt, er erfüllt auch die diagnostischen Kriterien* eines angeborenen Asperger-Syndroms. Diese tiefgreifende Entwicklungsstörung aus dem Autismusspektrum wird nach ICD-10 (F84.5) durch die folgenden Kriterien beschrieben:
  • Qualitative Abweichungen der wechselseitigen sozialen Interaktionen
  • Eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten
  • Keine allgemeine Entwicklungsverzögerung
  • Kein Entwicklungsrückstand der Sprache
 
Die qualitativen Abweichungen in der sozialen Interaktion zeigen sich in Sheldons mangelnder Empathiefähigkeit, seinem scheinbaren Desinteresse an den Meinungen und Gefühlen seiner Mitmenschen sowie in seinen Schwierigkeiten, Humor und Sarkasmus zu verstehen.
Sheldons Aktivitäten unterliegen einem zwanghaft bis in Detail durchorganisierten Ablauf. Abweichungen von der Routine versetzen ihn in höchste Anspannung, weshalb er stets bemüht ist, seiner Umwelt seine Abläufe und Rituale aufzuzwingen. Ebenfalls charakteristisch für das Asperger-Syndrom sind seine Spezialinteressen und sein detailversessenes Wissen bzgl. Naturwissenschaften, Science Fiction und Modelleisenbahnen.
Die beiden letztgenannten Diagnosekriterien (fehlende allgemeine und sprachliche Entwicklungsverzögerung) dienen v.a. der Abgrenzung des Asperger-Syndroms vom frühkindlichen Autismus (sog. Kanner-Autismus). Dass Sheldon durch eindeutig überdurchschnittliche intellektuelle (IQ von 187) und sprachliche Fähigkeiten imponiert, stützt die Diagnose des Asperger-Syndroms.
 
Sheldon wuchs, gemeinsam mit einer Zwillingsschwester, in einer Familie der amerikanischen Mittel- bis Unterschicht auf. Weder Eltern noch Schwester scheinen seine intellektuellen Begabungen und wissenschaftlichen Interessen geteilt zu haben. Es gibt viele Hinweise darauf, dass er von Beginn an sowohl innerhalb als auch außerhalb der Familie als Sonderling galt. Sheldons Vater konnte mit dem Sohn, welcher seine Interessen (Football und Jagen) nicht teilte, offenbar nichts anfangen und zog sich enttäuscht von ihm zurück. Es lässt sich vermuten, dass auch seine attraktive und mutmaßlich in der Peergroup beliebte Schwester nicht unbedingt den engen Kontakt zu ihrem sonderbaren und schwierigen Bruder suchte.
 
So blieben Sheldon als primäre Bezugspersonen eine nicht näher charakterisierte Omi und seine Mutter, Mary. Mary verwöhnte ihren Sohn auf einer oral-regressiven Ebene, kochte ihm sein Lieblingsessen (Pasta mit Würstchen) und bemutterte ihn, wenn er krank war. Allerdings forderte sie dafür von ihm die widerspruchslose Unterordnung unter ihr konservativ-religiös geprägtes Normen- und Wertesystem und strafte Abweichungen und Widerspruch durch harsche Kritik. Somit konnte sich Sheldon mit seinen Interessen und intellektuellen Leistungen auch bei ihr nicht akzeptiert und aufgrund seines wahren Ichs geliebt fühlen.
 
In dem allgegenwärtigen Bewusstsein, anders als alle anderen zu sein, von diesen nicht wirklich angenommen zu werden und nicht dazuzugehören, zieht Sheldon seine immer wieder enttäuschten Beziehungswünsche von den Mitmenschen ab und sucht Erfüllung im eigenen intellektuellen Binnenraum, wo er wissenschaftliche Höchstleistungen vollbringt und sich in die Rolle der (gerade aufgrund ihrer Andersartigkeit) allseits bewunderten Superhelden seiner Comics und Computerspiele phantasiert.
Seine intellektuelle Überlegenheit nutzt er immer wieder dazu, verdrängte Selbstzweifel zu unterdrücken, häufig auch auf Kosten Anderer, die er durch seine narzisstische Selbstüberhöhung kränkt.
 
Ein heimlicher unbewusster Versuch, sich doch noch die ersehnte liebevolle Zuwendung seiner Bezugspersonen zu sichern, ist für Sheldon (entsprechend den frühen Erfahrungen mit seiner Mutter) die Krankenrolle. So drückt sich der verdrängte Versorgungswunsch als manifeste Hypochondrie (ICD-10: F45.2) aus:
  • Beharrliche Beschäftigung mit der Möglichkeit, an einer oder mehreren schweren und fortschreitenden körperlichen Krankheiten zu leiden
  • Anhaltende körperliche Beschwerden oder anhaltende Beschäftigung mit ihren körperlichen Phänomenen
  • Interpretation normaler oder allgemeiner Körperwahrnehmungen und Symptome als abnorm und belastend 

 
Im Falle einer tatsächlichen Erkrankung (z.B. Erkältung) reagiert Sheldon übertrieben regressiv und fordert von seinen Bezugspersonen maximale Betreuung und Zuwendung ein. Auch hier verlangt er die Einhaltung eines bis ins Detail festgelegten Verfahrensablaufs (Zubereiten von Hühnersuppe, Einreiben der Brust, Singen des Katzentanzlieds), was dem Bedürfnis des Asperger-Autisten nach Routine und Stereotypisierung entspricht.

 
Psychodynamisch-interaktionell wird hier Sheldons Versuch deutlich, den Kontakt zu anderen Menschen soweit zu standardisieren (Mitbewohnervereinbarung, Beziehungsrahmenvereinbarung), dass er stets vollständige Kontrolle über die Regulation von Nähe und Distanz hat, um nicht Gefahr zu laufen, durch zu große Nähe zu Anderen von diesen beschämt und gekränkt zu werden, wie er es seit frühester Kindheit immer wieder erlebt hat. Auch die radikale Verleugnung jeglicher sexuellen Bedürfnisse erklärt sich dadurch.

 
* In einer früheren Version dieses Beitrags schrieb ich, dass Sheldon Cooper unter einem Asperger-Syndrom „leidet“. Dankenswerterweise wurde ich darauf hingewiesen, dass Menschen mit Asperger-Syndrom unter dieser Diagnose nicht zwangsläufig leiden müssen. Siehe dazu auch hier.

 

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The Dark Knight: Joker

Der von Heath Ledger gespielte Joker im Film The Dark Knight, dem zweiten Teil der Dark Knight Trilogie, ist mit Sicherheit einer der faszinierendsten Bad Guys der Filmgeschichte. Seine Unberechenbarkeit, sein unbändiger Drang und scheinbar unerschöpflicher Antrieb zu Chaos und Zerstörung werden durch die Wucht ihrer Darstellung geradezu physisch spürbar.

Fast scheint der Joker kein Mensch mehr zu sein, sondern vielmehr die personifizierte Destruktivität, Murphys menschgewordendes Gesetz. Aber eben nur fast. Letztlich bleibt er doch ein Mensch, allerdings ein psychopathologisch höchst auffälliger.
In der Figur des Jokers manifestiert sich in extremer Weise das Bild einer Dissozialen Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.2). Hierunter versteht sich ein zeitlich und situativ stabiles Persönlichkeitsmuster, welches durch mindestens drei der folgenden Erlebens- und Verhaltensweisen geprägt ist:
  • Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer
  • Deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen
  • Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen
  • Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges Verhalten
  • Fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen
  • Deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Rationalisierungen anzubieten für das Verhalten, durch welches die Betreffenden in Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind
Wir finden beim Joker nicht nur die für die Diagnosestellung notwendigen drei, sondern gleich alle sechs Merkmale in ausgesprochen starker Ausprägung erfüllt: Mitgefühl scheint ihm fremd, er stiehlt und mordet mit schockierender Gleichgültigkeit. Die Missachtung sozialer Normen und Gesetze ist sein erklärtes und handlungsleitendes Ziel. Trotz seiner auffallenden Gleichgültigkeit gegenüber anderen, gelingt es ihm problemlos, immer wieder Menschen für sich und seine Zwecke zu gewinnen und auszunutzen. Seine scheinbare Gelassenheit entpuppt sich schnell als Fassade, wenn etwas nicht nach Plan verläuft (z.B. als der Fernzünder für die Krankenhausbombe nicht gleich funktioniert). Dann reagiert er überaus impulsiv und aggressiv. Indem der Joker sich selbst zum quasi übermenschlichen Chaosprinzip erklärt, erhebt er sich über jegliche Schuld. Bestrafungen nimmt er bereitwillig in Kauf, als Gelegenheit, anhand seiner Gleichgültigkeit die eigene Überlegenheit zu demonstrieren. Die Rationalisierung des eigenen Verhaltens ist eine wahre Königsdisziplin des Jokers, der es immer wieder schafft, sich selbst als letztlich unausweichliche Konsequenz latenter gesellschaftlich-moralischer Missstände zu stilisieren und damit selbst den vormals so rechtschaffenen Staatsanwalt Harvey Dent für sich einzunehmen.

Wenn der Joker nun, trotz seiner Persönlichkeitsstörung, auch nur ein Mensch ist, stellt sich unweigerlich die (bei weitem nicht nur) psychologisch höchstinteressante und –relevante Frage: Bad or mad? Wirkt im Verhalten des Jokers ein ursächlich Böses als primäre Antriebskraft, oder ist es trotz allem als pathologisch-paradoxer Versuch zur Erfüllung basaler menschlicher Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Sicherheit und Annahme zu verstehen?

Vieles spricht für Letzteres. Während die obengenannten Grundbedürfnisse evolutionsbiologisch nach wie vor essenziell bedeutsam sind, hat ein primärer, nicht der Selbstverteidigung (und damit wieder der eigenen Sicherheit) dienender, Aggressionstrieb keinerlei Nutzen, ist folglich nicht sinnvoll erklärbar. Dagegen liefert die Psychologie mindestens zwei plausible Erklärungen für zunächst völlig irrational und paradox anmutendes destruktiv-aggressives Verhalten: 

  • Als direkte Reaktion auf eigene Kränkung und Frustration, insofern als die Aggression dazu dient, die eigenen negativen Gefühle im Außen bzw. im Gegenüber unterzubringen um sie nicht selbst aushalten zu müssen
  • Als Versuch, in einer als chaotisch und undurchschaubar erlebten Welt, durch Verletzung von Regeln und Normen, Resonanz und Grenzen zu erfahren, in der Hoffnung, dadurch doch noch Orientierung, Halt und somit letztlich Sicherheit zu erleben
Beide Sichtweisen können helfen, das Verhalten des Jokers zu verstehen. Wenngleich wir wenig über seine Vorgeschichte wissen, steht fest, dass er Schreckliches erlebt haben muss.  Zwar ist mindestens eine der beiden Geschichten über seine Verstümmelung gelogen, diese selbst bleibt dennoch real. Selbst wenn die konkreten Geschichten beide faktisch unwahr sind, handelt es sich dabei doch um Abwandlungen eines real erlebten Traumas. Möglicherweise ist die Erinnerung daran sogar gänzlich verdrängt und die wechselnden Geschichten sind weniger bewusste Lügen, als vielmehr sogenannte Deckerinnerungen, welche vor der Erinnerung des tatsächlich Erlebten schützen.
Wie dem auch sei, der Joker war einst Opfer und die Opferrolle ist ihm buchstäblich und unwiderruflich ins Gesicht geschrieben. Das erlebte lässt sich nicht verbergen, sondern ist für jedermann jederzeit sichtbar. Worauf er hoffen kann ist allenfalls Mitleid, wahrscheinlicher sind jedoch Ekel und Abscheu. Die Möglichkeit, seine Selbstdarstellung und Position in der Gesellschaft frei zu variieren und selbst zu gestalten ist ihm genommen.
Gut möglich, dass die innere Welt eines so Versehrten sich schließlich aufspaltet in Opfer und (aktiv misshandelnde oder zumindest herablassende und ausgrenzende) Täter. In diesem Fall bleibt die Wahl zwischen dem Ertragen von Schmerz, Scham und Angst oder der Selbstdefinition als Täter, der diese Gefühle anderen zufügt um sie nicht selbst aushalten zu müssen. Diesen Mechanismus, bei dem Gewaltopfer selbst zu Tätern werden, nennt man Identifikation mit dem Aggressor. Der Joker wählt diesen Weg und stilisiert sein eigenes Leid zum Schrecken der Anderen.

Obwohl der Joker damit seine eigene Ausgrenzung aus der Gesellschaft zementiert, bleibt ein unterschwelliger Bindungswunsch doch wahrnehmbar. Deutlich zeigt er sich in der Beziehung zu Batman. Wir dürfen dem Joker glauben, dass er Batman nicht töten will. Tatsächlich findet er Erfüllung (vermutlich nur) im Katz-und-Maus-Spiel mit diesem. Durch sein eigenes abnormes Verhalten sichert er sich dessen volle Aufmerksamkeit und intensive Zuwendung.

Die Regeln und Autoritäten der Gesellschaft konnten den Joker damals nicht vor seinem schrecklichen Schicksal bewahren, weshalb er ihnen zutiefst misstraut, sie verachtet und ihnen ihre Unzulänglichkeit immer wieder beweisen muss. Doch dann ist da Batman, eine neue, größere, stärkere und unmittelbarere Autorität. In ihm bestätigt sich das Versagen der alten Ordnung. An ihn knüpfen sich die Hoffnungen derer, die von dieser enttäuscht wurden. Und so kann auch der Joker seine Faszination für Batman nicht verbergen. Seine Aufmerksamkeit zu erlangen treibt ihn an. Ihn verachtet er nicht, sondern sucht seine Augenhöhe. Von ihm will er gesehen werden, selbst wenn dies Bestrafung bedeutet. Ein Kampf auf Leben und Tod mit Batman ist ihm lieber, als jede erdenkliche Wohltat, als Reichtum und Macht sowieso.
Dahinter steht die Hoffnung, in Batman endlich jemanden gefunden zu haben, der stark genug ist, das Chaos, welches das Leben des Jokers vor langer Zeit so unfassbar grausam heimgesucht hat, in Ordnung zu bringen. 

Alfred mag recht haben: Manche Menschen wollen die Welt einfach nur brennen sehen. Tatsächlich aber wünschen sie sich verzweifelt, dass spätestens dann endlich jemand auftaucht, der imstande ist, das Feuer zu löschen.

Mehr zur Dark Knight Trilogie gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast Folge 20 zu hören!

 

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Breaking Bad: Walter



In Breaking Bad können wir den Aufstieg (und Fall?) des Mittelschicht-Chemielehrers Walter White zum skrupellosen Drogendealer mit dem Pseudonym Heisenberg verfolgen. Die Handlung setzt ein, als Walter ein inoperabler Lungenkrebs diagnostiziert und eine Restlebenszeit von wenigen Jahren prognostiziert wird.

Über Walters Leben vor der Diagnose erfahren wir nur wenig. Offenbar war er einst ein äußerst begabter Chemiker, kreativ, wissbegierig und dadurch erfolgreich. Bis zu seinem fünfzigsten Geburtstag, an welchem er die Krebsdiagnose erhält, scheint er jedoch den Großteil seiner Vitalität eingebüßt zu haben. Was passiert ist, wissen wir nicht. Wahrscheinlich nur der Alltag und das Alter.

Als wir Walter kennenlernen, weist er die diagnostischen Merkmale einer Dysthymia(ICD-10: F34.1) auf, einer chronischen subdepressiven Verstimmung. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass die Symptomatik nicht so stark ausgeprägt ist, wie bei einer manifesten depressiven Störung, dafür aber über mindestens zwei Jahre konstant oder wiederkehrend anhält. Bei Walter lassen sich die folgenden charakteristischen Symptome beobachten: 

  • Antriebslosigkeit
  • Geringes Selbstvertrauen
  • Verlust der Freude an Sexualität
  • Sozialer Rückzug
  • Verminderte Gesprächigkeit
Dies ändert sich jedoch schlagartig, als Walters deprimierende Alltagsroutine durch die katastrophale Krebsdiagnose erschüttert wird: Umgehend fasst er den Plan, Crystal Meth zu kochen und zu verkaufen, um Geld für seine Familie aufzutreiben.
Doch diese relativ rationale Ausgangsmotivation kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem eine plötzliche und fundamentale Veränderung von Walters Erlebens- und Verhaltensweisen zugrunde liegt: Der ehemals, im Rahmen seiner Dysthymia, überangepasste, stille und unterwürfige Walter neigt jetzt auf einmal zu Wutausbrüchen und impulsiver Aggressivität, ebenso wird eiskaltes kriminelles Kalkül sichtbar. Die depressive Stimmungslage schlägt in umtriebige Vitalität und aggressive Gereiztheit um, Antrieb und Libido sind gesteigert, der Selbstwert wirkt plötzlich erhöht, Empathie und soziale Anpassung sind verschwunden. Auffallend ungerührt begeht Walter nun Verbrechen, lügt, bricht Regeln und Versprechen, greift zu körperlicher Gewalt und psychologischer Manipulation.

Eine derart auffallende Veränderung der Erlebens- und Verhaltensweisen in direktem Zusammenhang mit einer starken psychosozialen Belastungssituation wird in der Psychopathologie als Anpassungsstörung bezeichnet. Da Walter überwiegend Symptome aus dem dissozialen Spektrum zeigt (Missachtung sozialer Normen, Empathielosigkeit), ist eine Anpassungsstörung mit vorwiegender Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F43.24) zu diagnostizieren.
Wie lässt sich nun diese massive Symptomverschiebung erklären? Wie wird aus einem depressiven Spießer quasi über Nacht ein gewalttätiger Drogendealer? Um das zu verstehen, müssen wir uns eingehender mit Walters Persönlichkeit und ihrer Psychodynamik befassen.
Der junge Walter, wir lernen ihn in einer Rückblende kennen, ist ein energischer, charismatischer und begabter Wissenschaftler. Er erzielt erste Erfolge, die ihn seiner überdurchschnittlichen Intelligenz und Begabung versichern. Die Welt steht ihm offen und er weiß das.
Doch die Welt bleibt Walter viel schuldig: der akademische Ruhm ist flüchtig und bleibt schließlich ganz aus. Weniger Begabte machen die großen Karrieren. Die verwöhnten Highschool-Kids, die er schließlich als Chemielehrer unterrichtet, respektieren ihn und seine Kenntnisse nicht. Ihre offene Geringschätzung wird ein Quell ständiger Kränkung. Wenngleich ihm die meisten intellektuell nicht gewachsen sind, steht nun ihnen die Welt offen, während er zum zuschauen verdammt ist.
Auch privat bleibt das große Glück aus. Attraktion und Erotik werden im Alltag des Ehelebens zerrieben, der Stammhalter ist behindert, sozial isoliert und zeigt kein Interesse daran, die hochfliegenden Träume des Vaters stellvertretend zu leben.
All dies, inklusive des entwürdigenden Zweitjobs als Autowäscher und der Angebereien seines Schwagers, der sich als männlich-kerniger Super-Drogenfahnder inszeniert, scheint Walter über Jahre hinweg geduldig zu ertragen: Er ist ein bescheidener Mann. Es könnte schlimmer sein.

Doch die früheren Träume von Großartigkeit, Einfluss und Anerkennung sind nicht einfach ausgelöscht, sie sind lediglich ins Unbewusste verdrängt worden, um den deprimierenden Alltag nicht durch Gedanken, wie alles hätte werden können, noch unerträglicher zu machen.
Die narzisstischen Fantasien über die eigene Person, wie und wer man selbst sein könnte, wenn nur die Umstände perfekt und die eigenen Schwächen besser unter Kontrolle wären, nennt die Psychologie Größenselbst. Es hat die Aufgabe, der heranwachsenden Persönlichkeit die Angst vor der großen, weiten Welt zu nehmen, indem sie beeinflussbar, ja beherrschbar wirkt, und dadurch Entwicklung zu ermöglichen. Auch schützt das Größenselbst das Ich vor allzu großen Selbstzweifeln und Resignation angesichts der alltäglichen Kränkungen und Insuffizienzen.
Walters Größenselbst ist zwar tief ins Unbewusste verdrängt, doch dort wartet es, lauert. Während das Bewusstsein Kränkung um Kränkung stoisch einsteckt, wächst das unbewusste Größenselbst kompensatorisch umso mehr. Geltungsdrang, Rachegelüste, hedonistische Bedürfnisse werden zugunsten der emotionalen Abstumpfung, die den Alltag erträglich macht, ins Unbewusste verschoben und nähren dort das Größenselbst.
Und dessen Stunde schlägt schließlich: Die erschütternde Diagnose ist die ultimative Kränkung, die finale Ungerechtigkeit. Das Leiden, Ertragen, Funktionieren werden nicht belohnt, es wird kein Happy End geben, die fetten Jahre folgen nicht mehr, nach den vielen dürren soll einfach Schluss sein. Walters psychische Überlebensstrategie ist gescheitert.

Die zu erwartende Konsequenz, nach der initialen Schockstarre, wäre der völlige Zusammenbruch: Verzweiflung, Resignation, Depression, vielleicht Suizid. Doch anstelle der totalen Depression, tritt das lange verdrängte Größenselbst. Verzweiflung und Hilflosigkeit werden jetzt verdrängt, um den Zusammenbruch zu verhindern. Das Ich kämpft mit allen Mitteln ums Überleben. Vom Tode bedroht, schwingt sich Walter selbst zum Herrn über diesen auf. Seine eigene, akute Sterblichkeit wird verleugnet, von Behandlungsoptionen will er nichts wissen. Im Mord an seinen Kontrahenten im Drogenbusiness ist er es, der den Tod beherrscht. Warum Walter White, der Langweiler mit dem deprimierenden Leben und dem unwürdigen Tod sein, wenn man Heisenberg sein kann, gottgleiches Genie, Nobelpreisträger – oder Drogenbaron.

Das Leben, die Gesellschaft, sie haben Walter White nichts geschenkt – Heisenberg schuldet ihnen nichts.

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